Warum spricht die Politik nicht von der Mafia?

Mailand 21.Juni 2018: Die Antimafia-Staatsanwälte Di Matteo und Del Bene (1) diskutieren mit dem Soziologie-Professor Nando Dalla Chiesa unter dem Motto: „Man kann die Mafia besiegen – aber das hängt von uns ab!“ Organisiert wurde die Runde von Wiki-Mafia, einer Antimafia-Enzyklopädie im Internet, gegründet vom dalla-Chiesa-Schüler Pierpaolo Farina.

Einige Ausschnitte finden sich auf youtube, auf Italienisch:

Hier ein Ausschnitt (leicht gekürzt) :

Frage: Dr. Di Matteo, stellen wir uns vor, ein Kind fragt Sie, was ist Mafia? Sie erklären es ihm, und dann fragt das Kind weiter: Aber weshalb sprechen die Politiker nie von der Mafia?

Nino Di Matteo: Weil ein Teil der Politiker – ich weiß nicht wie groß der Anteil ist – es immer noch vorteilhaft findet, sich mit diesem Phänomen nicht ernsthaft auseinanderzusetzen, es wirklich besiegen zu wollen. Und das, weil sie in diesem System von Mafia und Korruption weiterhin für sich die Möglichkeit sehen, neue Geschäfte zu machen, bei weiteren Personen Zustimmung zu finden, kurz gesagt, das System der Macht am Leben zu halten. Es gibt einen anderen Teil der Politiker – der mir übrigens nicht weniger Sorgen macht – der die Existenz der Mafia ignoriert, der sich der Gefährlichkeit des Phänomens nicht bewusst ist, der von der Bedeutung des Urteils gegen Giulio Andreotti nichts wissen will, der ebenfalls nichts wissen will von der Bedeutung des Urteils gegen Marcello Dell’Utri und nicht einmal darüber nachdenkt, was die Verurteilungen im Prozess zur Trattativa (2) für Italien bedeuten.

Deshalb würde ich zu diesem Kind sagen: Kämpfe gegen die Mafia, in erster Linie für dich selber und für deine Zukunft, damit die Politiker, die mit der Mafia zusammenleben und zusammenleben wollen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Und kämpfe dafür, dass die, die die Mafia ignorieren – und das ist ein genauso schlimmes Verhalten – , sich ändern. Es wäre dumm, verallgemeinern zu wollen. Aber es gibt immer noch viele, die, ohne es auszusprechen, genauso denken wie der ehemalige Minister Lunardi, der den Mut hatte, offen zu sagen, man müsse eben mit der Mafia zusammenleben. Und es gibt diejenigen, die offensichtlich nicht denken können, die Ahnungslosen, die über die Mafia nichts wissen, nicht darüber nachdenken. Die es bequemer finden zu denken, dass Mafia das Problem einer Schießerei in Neapel oder in Kalabrien sei, oder das Problem wie man einen Mafia-Killer dingfest machen kann…

Die Frage, warum die Politik nicht über Mafia spricht, ist mir bisher so nie gestellt worden. Aber wenn ich mich mit Schülern und Studenten treffe, kommt häufig die Frage: „Wann wird die Mafia endlich besiegt werden?“ Dann antworte ich: Wenn zwei Bedingungen erfüllt sind.

Die erste Bedingung entspricht dem Titel dieser Veranstaltung: „Es hängt von uns ab.“ Es ist eine kulturelle Revolution nötig, die von den jungen Leuten ausgehen muss. Die zweite Bedingung betrifft die Politik. Wir brauchen eine Änderung der Politik, die mit der genauen Kenntnis des Problems und dem Bewusstsein beginnt, wie gefährlich es ist.

Wir leben in einer Republik, wo ein Politiker, der sieben Mal Ministerpräsident und 21 Mal Minister war (Giulio Andreotti), sich in Sizilien in aller Ruhe mit den Mafia-Bossen aus Palermo traf, um mit ihnen darüber zu diskutieren, welche Schäden der Regionspräsident Piersanti Mattarella (3) bei den Geschäften der Cosa Nostra anrichtete. Wir leben in einer Republik, in der ein beträchtlicher Teil der Politik heute noch die Interessen einer Person vertritt, die mit Bossen der Cosa Nostra 1974 in Mailand einen Pakt geschlossen und ihn bis mindestens 1992 respektiert hat, also 18 Jahre lang. Ich spreche hier von dem damaligen Unternehmer Silvio Berlusconi. Also, die Politik muss eine andere Richtung nehmen, sie muss die Mafia ernsthaft bekämpfen und darf diesen Kampf nicht an die Justiz und die Polizei delegieren, sie darf nicht weiterhin sagen „Warten wir das Urteil der 3. Instanz ab“, denn auch wenn die endgültigen Urteile gesprochen sind, dann interessieren sie sich nicht einmal dafür. Die Politik muss wieder Ernst machen, und sie hat ja in der Vergangenheit schon bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist. Die Politik muss im Kampf gegen die Mafia die Führung übernehmen! Sie darf sich nicht mehr hinter der billigen Ausrede verstecken, man achte nur die Gewaltenteilung und warte deshalb auf die endgültigen Urteile der Justiz. Ragazzi, hier werden zwei Ebenen bewusst vertauscht. Die Justiz untersucht die strafrechtliche Verantwortung einzelner Personen, einzelner Vorgänge, einzelner Verhaltensweisen. Aber es gibt bestimmte Phänomene von Mittäterschaft, die unabhängig vom Ausgang des Strafprozesses geahndet werden müssten, wo eine politische Verantwortung übernommen werden müsste, und dafür muss die Politik sorgen. Die italienische Politik drückt sich heute total vor ihrer Aufgabe als vorderste Front des Kampfes gegen die Mafia.

Wenn wir auf die deutsche Politik schauen, die ebenfalls das Wort Mafia nie in den Mund nimmt, welche Schlüsse können wir aus dem Beispiel Italien ziehen?

(1) Die beiden Antimafia-Staatsanwälte Di Matteo und Del Bene haben im Prozess zur „trattativa“ die Anklage vertreten

(2) Giulio Andreotti war seit Kriegsende Politiker der Democrazia Cristiana, das definitive Urteil (2004) bestätigt ihm dauerhafte Verbindungen mit Vertretern der Cosa Nostra bis zum Jahre 1980, die aber zum Zeitpunkt des Urteils verjährt waren. In weiten Teilen der Öffentlichkeit wird behauptet, er sei freigesprochen worden. Marcello Dell’Utri, Freund und rechte Hand von Silvio Berlusconi, wurde zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er als Mittelsmann zwischen Cosa Nostra und Berlusconi fungiert hat. Die erste Instanz des Prozesses zur Trattativa (zu den Verhandlungen zwischen Mafia und Staat) endete im April 2018 mit der Verurteilung von Mafia-Bossen, von hohen Rängen der Polizei, von ehemaligen Politikern, darunter erneut Dell’Utri.

(3) Der Ministerpräsident von Sizilien Piersanti Mattarella verfolgte eine bewusste Antimafia-Politik, er wurde 1980 von der Mafia ermordet. Sein Bruder Sergio ist heute Staatspräsident.Der Staat und die Mafia sind zwei Mächte, die dasselbe Gebiet besetzen. Entweder bekriegen sie sich, oder sie verständigen sich! – Paolo Borsellino

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