Diesen Titel wählt der italienische Mafiaexperte, Journalist und Herausgeber der Zeitung Antimafiaduemila Giorgio Bongiovanni für seinen Bericht über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Geklagt hat ein Boss der `ndrangheta, Marcello Viola. Er sitzt im Gefängnis wegen mehrfachen Mordes, wegen Beseitigung einer Leiche, wegen Entführung und illegalem Waffenbesitz. Insgesamt vier Mal lebenslänglich haben die Gerichte verhängt. Einer der Morde ist wegen der besonderen Grausamkeit erwähnenswert: 1991, am sog. „Schwarzen Freitag“, wurden in Taurianova (Kalabrien) innerhalb weniger Stunden vier Personen getötet, und eines der Opfer, Giuseppe Grimaldi, wurde von dem Killerkommando geköpft. Anschließend wurde der abgeschlagene Kopf auf der Piazza als Ziel eines Schießstandes zum Abschuss für alle freigegeben. Noch am gleichen Tag versuchte Viola, die ganze Familie Grimaldi auszulöschen: Mit zwei anderen Männern brach er ins Haus der Familie ein und versuchte, den Sohn und die anderen Verwandten zu entführen, was glücklicherweise nicht gelang. Deshalb sitzt er jetzt im Gefängnis, wobei ihm Vergünstigungen versagt werden, weil er bisher jede Art von Zusammenarbeit mit der Justiz verweigert hat. Allerdings konnte er im Gefängnis Hochschulabschlüsse in Biologie, Medizin und Chirurgie machen und folgt aktuell einem Studiengang in Betriebswirtschaft. Nun haben sich seine Anwälte an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gewandt und gegen die Verhängung der Urteile zu lebenslänglicher Haft geklagt – und am 13.6.2019 Recht bekommen. Der EGMR stellt fest, dass das italienische Gesetz zum „ergastolo ostativo“ (lebenslängliche Haftstrafe ohne die Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung) Artikel 3 der Europäischen Konvention zu den Menschenrechten verletze, die Folter, unmenschliche und herabwürdigende Strafen, und das Fehlen einer Möglichkeit zur Resozialisierung untersage.
Italien hat daraufhin Widerspruch eingelegt und argumentierte mit der invasiven Präsenz der Mafia-Organisationen auf italienischem Gebiet. Auch wenn im Art. 4bis der italienischen Strafvollzugsordnung festgelegt sei, dass Haftvergünstigungen (Preise, Arbeit außerhalb des Gefängnisses, Alternativen zur Haft, doch nicht die vorzeitige Entlassung) dem Häftling im verschärften Strafvollzug nur zugestanden werden, wenn er mit der Justiz zusammenarbeitet, so dass evident werde, dass seine Beziehungen zur OK unterbrochen seien, so sei trotzdem im gleichen Artikel festgelegt, dass die Vergünstigungen auch dann möglich sind, wenn seine Zusammenarbeit mit der Justiz für Ermittlungen „objektiv irrelevant“ sei. Die einzige conditio sine qua non sei, wenn der Häftling auch im Gefängnis noch Verbindung zur OK habe. Dies ist im vorliegenden Fall gegeben. Die Behörden sind sich sicher, dass Viola für seinen Clan immer noch die Rolle des Bosses innehat.
Und wie argumentiert Straßburg?
Ein Staat könne nicht lebenslänglich ohne die Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung verhängen, nur weil der Häftling nicht zur Zusammenarbeit mit der Justiz bereit sei. Die Verweigerung einer Zusammenarbeit bedeute, „nicht notwendigerweise“, dass der Verurteilte seine Taten nicht bereut habe und immer noch in Kontakt mit seiner kriminellen Organisation stehe, was ja tatsächlich eine Gefahr für die Gesellschaft bedeutet. Die Weigerung könne auch andere Gründe haben, z.B. die Angst um das eigene Leben oder das seiner Angehörigen. Also, so die Richter von Straßburg, sei eine Entscheidung für die Zusammenarbeit mit der Justiz nie ganz freiwillig. Und Italien wird aufgefordert, das entsprechende Gesetz zu ändern.
Die Mafiabosse und ihre Anwälte jubilieren!
Und die Stellungnahmen italienischer Experten?
Zitiert werden im Artikel von Antimafiaduemila nur zwei Stellungnahmen (des ehemaligen Staatsanwalts Gherardo Colombo und des Ex-Senators Luigi Manconi), die den „ergastolo ostativo“ für nicht mit der italienischen Verfassung vereinbar halten. Die überwältigende Mehrheit derer, die sich zu Wort melden, sind jedoch gegenteiliger Meinung und über den Richterspruch empört oder entsetzt:
Stellvertretend für die vielen Experten (Antimafia-Richter, Politiker, Journalisten, Vertreter der Mafia-Opfer) hier nur die Stellungnahme von Nicola Morra, dem Präsidenten der Parlamentarischen Antimafia-Kommission: Das Urteil bedeute auch „eine Beleidigung für Generationen von Sizilianern, Italienern, Richtern und Kriminalbeamten, die zur Verteidigung des Staates gehandelt haben und deshalb in abscheulichen Attentaten von der Mafia eliminiert wurden. (…) Der Staat bekämpft den Einsatz von Sprengstoff, indem er mit Margeriten wirft.“
Von Alfonso Bonafede, Justizminister: Er sieht auch den Artikel 41 bis in Gefahr (Haft zu verschärften Bedingungen)
Und von Roberto Scarpinato,dem leitenden Antimafia-Staatsanwalt von Palermo: Er meint, den ergastolo ostativo abzuschaffen, bedeute, den Kampf gegen die OK aufzugeben. (…)
Zu behaupten, dass die Gefangenen keine freie Wahl hätten, ob sie mit der Justiz zusammenarbeiten wollten oder nicht, weil sie sich damit der Gefahr für Leib und Leben aussetzten, sei gleichbedeutend mit der Behauptung, der italienische Staat hätte bewiesen, dass er nicht in der Lage sei, das Leben der Kronzeugen und ihrer Angehörigen zu schützen, während die Realität der letzten Jahrzehnte eindeutig das Gegenteil beweist, nämlich dass der italienische Staat sehr wohl in der Lage war und ist, das Leben von Hunderten von Kronzeugen und ihrer Familien dadurch zu schützen, dass man sie mit einer neuen Identität an anderen Orten untergebracht und ihnen die Möglichkeit eröffnet habe, ein neues Leben zu beginnen.
Indem das Gericht den Häftlingen das Recht zuspricht, nicht mit der Justiz zusammenzuarbeiten, weil sie sich damit der Rache der Mafia aussetzten, vermittle es damit eine äußerst negative Boschaft: Man könne kein Vertrauen haben in den Staat, dass er in der Lage sei, das Gesetz gegen die Übermacht der Mafia durchzusetzen. Damit sei auch gesagt, dass die Mafia mächtiger sei als das Gesetz. (…)
Noch paradoxer sei das Argument der Straßburger Richter, das italienische Gesetz (…) verletze das Recht des Gefangenen auf Selbstbestimmung und seine Würde. Scarpinato zitiert den Richter Wojtyczek, der als einziger gegen den Straßburger Richterspruch gestimmt und das o.g. Argument schlichtweg „rätselhaft“ genannt hat. Dieser Richter kritisiert das Urteil, da das Gericht damit seine Kompetenzen überschritten habe, indem es sich an die Stelle des italienischen Gesetzgebers setze und eine politisch alternative Gesetzgebung fordere, die dem Recht des Gefangenen selbst zu bestimmen, wie er seine Resozialisierung gestalten wolle, mehr Gewicht gebe als dem Schutz der Kollektivität. (…)
Die Abschaffung des ergastolo ostativo nähme dem Staat ausgerechnet das Instrument, das die Mafiosi wirklich fürchten: Lebenslange Haft, was für sie bedeute, ihre Macht zu verlieren und ihre angehäuften Reichtümer nicht mehr genießen zu können. Aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrung könne er sagen, dass Mafiabosse auch nach 30 Jahren Haft sofort wieder in die Aktivitäten der Mafia Eingang fänden. Mafia-Häftlinge seien außerdem stets mustergültige Gefangene, die dadurch nach dem italienischen Gesetz eine Reduktion ihrer Strafe erführen: Für jedes Jahr ihrer Haft mit guter Führung erhielten sie drei Monate angerechnet. Eine 10jährige Haftstrafe reduziere sich so auf achteinhalb Jahre und zwanzig Jahre auf fünfzehn. Gebe der Gefangene dann noch ein formelle Erklärung ab, mit seiner Vergangenheit als Mafioso gebrochen zu haben, sei klar, wie schwierig eine Entscheidung über Hafterleichterungen für den zuständigen Richter würde. Geht die Erklärung, sich von Cosa Nostra zu distanzieren auf eine gelungene Resozialisierung, auf eine tatsächliche Änderung der Lebenseinstellung des Gefangenen zurück oder ist sie das Ergebnis einer geschickten Strategie der Verschleierung? Entdecke man dies erst nach der Haftentlassung, riskiere man damit das Leben weiterer Opfer und die Glaubwürdigkeit des Staates im Kampf gegen Mafia-Verbrechen. Ein Problem, das der italienische Gesetzgeber vermeiden wollte, indem er den Zugang zu Hafterleichterungen der Zusammenarbeit mit der Justiz untergeordnet habe, womit er ein Gleichgewicht herstellen wollte zwischen dem Interesse der Gesellschaft und den Rechten des Einzelnen.
Ich persönlich halte die Differenzierung des italienischen Gesetzgebers nach Gefangenen und Gefangenen, die sich bei ihren Verbrechen durch besondere Unmenschlichkeit und Gefährlichkeit ausgezeichnet haben, für weise. Die von Straßburg kritisierte Gesetzgebung betrifft Mafia-Verbrechen, Terrorismus und Pädophilie. Dies befriedigt mein Bedürfnis nach Gerechtigkeit.
Der `ndrangheta-Boss, der in Straßburg geklagt hat, ist wegen mehrerer Morde und anderer Vergehen zu vier Mal lebenslänglich verurteilt worden. Einem Opfer den Kopf abzuschlagen und ihn dann auf der Piazza zum Abschuss für alle freizugeben, halte ich für eine beispiellose Grausamkeit, für Unmenschlichkeit. Der Boss Viola verdient für mich damit keine zweite Chance.
Dass es für das Gericht keine Rolle zu spielen scheint, dass Viola von den zuständigen Richtern in Italien immer noch für den Boss seines Clans gehalten wird – was einhergeht mit der Aussicht, dass neue Opfer für seine „nicht entwürdigende“ Behandlung bezahlen müssen, empört mich ebenso wie die Tatsache, dass der besonderen Grausamkeit, die Tausende von Mafia-Opfern, darunter Richter, Polizisten, Politiker, Journalisten usw. usw., in Italien erfahren haben, nicht im mindesten Rechnung getragen wird. Ich verstehe vollkommen die Verbitterung zahlloser Angehörigen von Mafia-Opfern. Das Urteil bedeutet für mich, dass nach Meinung der Straßburger Richter die Interessen eines einzelnen Bosses (Hunderte werden seinem Beispiel folgen) wichtiger sind, als die von Opfern und ihrer Angehörigen. Auch die Interessen der Gesellschaft, dass nämlich die Mafiosi daran gehindert werden, weitere Verbrechen und weitere Morde zu begehen, sollen nach diesem Urteil den Interessen eines einzelnen untergeordnet werden. Das scheint jetzt europäisches Recht zu sein, aber Gerechtigkeit ist das nicht! Das Gericht hätte besser die Mitgliedsstaaten aufgefordert, sich an der beispielhaften und effizienten italienischen Antimafia-Gesetzgebung ein Beispiel zu nehmen und endlich den Kampf gegen die OK wirklich aufzunehmen!..rsw.beck.de
Sie haben Falcone und Borsellino ein zweites Mal umgebracht. Die Straßburger Richter legen Italien nahe, den zu lebenslänglicher Haft verurteilten Gefangenen Vergünstigungen zu gewähren. – Gratteri: Der Staatsanwalt von Catanzaro, der zur `ndrangheta ermittelt: „Damit sind 150 Jahre Antimafia zunichte gemacht, die Bosse jubeln“