Von 223 im März und April in den Hausarrest entlassenen Häftlingen von besonderem Kaliber sind immer noch 112 zu Hause, d.h. sie sind trotz des vom Justizminister entlassenen Dekrets nicht in die Haftanstalten zurückgekehrt.
Da stellt sich die Frage nach der Verantwortung. Der verantwortliche Justizminister Bonafede (5Sterne) wurde u.a. von der parlamentarischen Antimafia-Kommission zu einer Befragung geladen, hat jedoch verschiedene Fragen nicht beantwortet. Die Misstrauensanträge der Opposition gegen Bonafede wurden von der Mehrheit der Parlamentarier abgewiesen. Und die Verantwortung wird jetzt von einer Dienststelle zur nächsten geschoben.
Der Minister selbst weist in einem Post auf Facebook jede Verantwortung von sich: Die Entscheidungen zur Haftentlassung hätten Richter „vollständig autonom“ getroffen. Sein Ministerium habe mit den zwei jüngst erlassenen Dekreten Gesetze geändert, die seit 50 Jahren von keinem reformiert worden seien. Sie verpflichteten die Richter, sich vor einer solchen Entscheidung mit den lokalen Antimafia-Behörden zu beraten. Jetzt habe er dafür gesorgt, dass die Umsetzung der beiden Antimafia-Dekrete auch vor Ort überprüft würde. – Dem Leser fällt auf, wie häufig der Minister in einem Post die Wendung „in vollständiger Autonomie“, bezogen auf die Richter, verwendet.
Piera Aiello aus Partanna (Provinz Trapani), Kronzeugin und Abgeordnete der 5Sterne, verlässt deshalb die Partei (Sie ist Nummer 36 der Parlamentarier, die in der letzten Zeit aus der Partei ausgetreten sind): Das eigene Land für immer verlassen zu müssen, weil man Mafiosi angezeigt hat, und nun sehen zu müssen, dass diese Leute wieder in die eigene Stadt zurückkehren, das ist für sie „eine Katastrophe, eine Niederlage für Sie als Frau und für den italienischen Staat“.
Nando dalla Chiesa, Professor für Soziologie der Organisierten Kriminalität in Mailand, Sohn des 1982 von der Mafia ermordeten Präfekts Carlo Alberto Dalla Chiesa: Seinem Eindruck nach seien die Haftentlassungen nur möglich gewesen, weil Fehler und Unregelmäßigkeiten begangen worden seien. Ein Blick in die Vergangenheit könne da für mehr Klarheit sorgen: Er untersuche jetzt mit seinen Studenten die medizinischen Gutachten der 70er und 80er Jahre. Er habe die Aussagen von Kronzeugen zu diesem Thema studiert: Sie sprächen alle von Gutachtern, die von der Mafia bezahlt worden sind. Auf jeden Fall sei er sehr verbittert, wenn er an die Anstrengungen denke, die Richter und Ermittler auf sich genommen hätten, um die Mafiosi ins Gefängnis zu bringen. Sie jetzt freizulassen bedeute, sie wieder nach Hause zu schicken, damit sie dort wie vorher kommandieren können. „Von wegen Umerziehung der Häftlinge wie mancher behauptet – daran glaube ich nicht!“