Ist das Europa, wie wir es wollen?
Am 21. März begeht Italien den Gedenktag für alle Opfer der Mafien, der aber auch die Erfolge von Polizei und Gerichten im Kampf gegen das Organisierte Verbrechen ins Bewusstsein rufen will. Aus diesem Anlass reflektiert der Journalist Piero Innocenti die Bedeutung einer Entscheidung von Eurostat (1) von 2014, die Gewinne aus Drogenhandel, Prostitution und Zigarettenschmuggel ins Bruttoinlandsprodukt (Bip) einrechnen zu können – eine Regelung, die in Deutschland seit September 2014 umgesetzt worden ist. Angesichts der bevorstehenden Europa-Wahlen haben auch wir Deutschen Grund, uns darüber Gedanken zu machen.
Diese Kann-Regelung macht die Regierungen Europas zu Dr. Jekyll und Mr. Hyde, wie Roberto Scarpinato, Generalstaatsanwalt von Palermo, bemerkt: Auf der einen Seite behauptet man, die Organisierte Kriminalität bekämpfen zu wollen, und Polizei und Gerichte führen einen zunehmend aussichtslosen Kampf dagegen, auf der anderen Seite rechnet man deren Gewinne mit ins Bruttoinlandsprodukt, um die Staatsbilanzen aufzubessern.
Die Gewinne der OK können natürlich nur geschätzt werden. Geradezu grotesk ist es, wenn man liest, wie die Zahlen für Zigarettenschmuggel erhoben werden: Der deutsche Zigarettenverband lässt leere Zigarettenschachteln aus öffentlichen Abfalleimern sammeln, um prüfen zu können, ob die Schachteln mit einer Steuermarke versehen sind. So kommen pro Monat 12000 Prüfstücke zusammen. Die Statistiker des Bundes schätzen dann auf dieser Basis die Gewinne durch Zigarettenschmuggel.
In gleicher Weise verwunderlich – oder soll man sagen empörend? – ist die Art und Weise, wie man dem Vorwurf, kriminelles Kapital einzuberechnen, vorbauen will: In der Regelung heißt es, dass nicht die Gewinne der OK gemeint seien, sondern nur Gewinne, die auf individuelle Geschäftsbeziehungen wie z.B. zwischen Drogenhändler und Konsument oder Prostituierte und Kunde zurückzuführen seien! Wenn also Polizeikräfte Drogen beschlagnahmen, so meint der Journalist Innocenti, handelten sie deshalb gegen die Interessen der nationalen Wirtschaft und „wir würden uns nicht wundern, wenn unsere Regierung in ein paar Jahren an die Drogenbosse Anerkennungsurkunden verteilt für ihren Beitrag, den sie zum Wirtschaftswachstum ihres Landes geleistet haben.“
„Guten Morgen, wir sind reicher“ titelte das Handelsblatt schon am 14.8. 2014 und fuhr fort: „Der geschrumpften Wirtschaftsleistung zum Trotz: Deutschland ist über Nacht um 80 Milliarden reicher geworden. Denn das Bruttoinlandsprodukt wird neuerdings ohne moralische Brille gemessen“.
In Italien betont die parlamentarische Antimafiakommission der letzten Legislaturperiode in ihrem Abschlussbericht vom Februar 2018, dass diese Regelung keinesfalls zu akzeptieren sei, da sie auf politischer und ethischer Ebene verheerende Auswirkungen habe. Die negativen Folgen dieser Entkriminalisierung der Gewinne, die mit illegalen Aktivitäten erzielt werden, scheinen in Europa und bei uns aber kaum jemanden zu interessieren – Hauptsache, die Zahlen stimmen. Im Gegenteil! Im Artikel des Handelsblatts vom 18.3.2014 wird Dr. Wolfgang Niehaus vom Ifo-Institut (2) zitiert: Zweck und Ziel der Neuberechnung sei, „möglichst international vergleichbare Zahlen nach harmonisierter Methodik zu haben. Wir begrüßen das sehr.“
- Das europäische Amt für Statistik
- Das Münchener Ifo-Institut ist das einflussreichste Wirtschaftsforschungsinstitut in Deutschland