Die vereinten Mafien von Europa

Dossier der italienischen Tageszeitung Il fatto quotidiano“

Das Dossier bietet eine ausführliche Übersicht über die Infiltration der Europäischen Union durch die verschiedenen Mafien und Gruppen Organisierter Kriminalität. Die Autoren stützen sich dabei auf die bis Mitte 2017 von verschiedenen Institutionen erhobenen Daten. Über eine interaktive Karte gelangt man zur Situation in den einzelnen Ländern Europas und entdeckt, dass keines der Mitgliedsländer frei ist von Organisierter Kriminalität (OK)

Hier soll nur die Gesamtsituation kurz zusammengefasst und ein Blick nach Deutschland geworfen werden.

  1. Allgemeine Situation

In den 28 europäischen Mitgliedstaaten wird gegen ca. 5000 kriminelle Organisationen ermittelt. Die italieniscnen Mafien nehmen dabei eine zentrale Stellung ein (Europol). 7 von 10 Organisationen arbeiten transnational und gleichzeitig in mehreren Sektoren, der größte Sektor ist der Drogenhandel, der zweitgrößte der Menschenhandel, der drittgrößte der Handel mit gefälschter Ware. Die OK-Gruppen teilen sich dabei einen illegalen Markt von 110 Milliarden Euro (Transcrime).

Die illegalen Gewinne müssen dann gewaschen werden, um sie in den Kreislauf der legalen Wirtschaft einzuspeisen. Zu diesem Zweck haben sich spezialisierte Banden gebildet, die eine Provision von 5-8% des gewaschenen Geldes erhalten. Auf diese Weise wird schrittweise die Konkurrenz in der legalen Wirtschaft ausgehebelt. Illegales Geld wird vor allem durch Immobilienkäufe, im Baugewerbe, bei der Müllbeseitigung, aber auch durch Investitionen in erneuerbare Energien, durch Geldtransfer und im Glücksspielsektor gewaschen.

Die Autoren vergleichen die Situation in Europa mit Italien nach dem zweiten Weltkrieg, als allerseits geleugnet wurde, dass die Mafia existiere.

Und was tut Europa? Seit mindestens 10 Jahren beschließt das Europaparlament Papiere, die die europaweite Einführung des italienischen Gesetzes „416 bis“ (allein zur Mafia zu gehören ist strafbar – Anm. 1) und der Beweislastumkehr (Anm.2) fordern. – Bisher ohne Ergebnis. Auch die Arbeiten für eine europäische Staatsanwaltschaft werden von verschiedenen Ländern blockiert. Die wiederholten Ermahnungen der Ermittler, dass die Mafien mit ihrem gigantischen Geldvermögen die freie und legale Wirtschaft aushebeln können, werden systematisch ignoriert. Außerdem gibt es bisher keine einheitliche Definition von OK, die die komplexen und flexiblen Strukturen der OK angemessen beschreiben würde (Europol). Und eine Verpflichtung für die einzelnen Staaten, sich um eine Regelung zu bemühen, existiert nicht.

Wie sollen die Mafien wirkungsvoll bekämpft werden, wenn jeder Staat macht, was er will, und einige Staaten gar behaupten, das Problem existiere gar nicht?

Der Bericht führt verschiedene Länder auf, die sich gegen eine effektive Mafia-Bekämpfung sträuben, darunter Deutschland. Bisher müsse man sagen, dass Europa mehrfach wichtige Gelegenheiten verpasst hat, um sich ernsthaft mit der Bekämpfung der Mafien auseinander zu setzen (Studie des Projekts Ikarus 2016; Jahresbericht 2016 der DNA Italien). Da europäische Gesetze fehlen, wenden sich inzwischen Ermittler aus europäischen Ländern mit Amtshilfeverfahren an die Nationale Staatsanwaltschaft in Italien. Ersatz für ein fehlendes Gesetz im eigenen Land ist nun die Kooperation mit Italien, wobei die italienischen Behörden bald ihre Belastungsgrenze erreichen werden.

Es ist schwer zu begreifen, dass sich Europa stur gegen den „Königsweg“ zur Bekämpfung der Mafien wehrt, den Giovanni Falcone so formuliert hat: „Folgt der Spur des Geldes!“ Zwischen 1992 und 2016 hat der italienische Staat 21,3 Milliarden beschlagnahmt und 8,5 Milliarden konfisziert. Dass sich die Mitgliedstaaten diesen wahren Geldschatz – vor allem in Zeiten knapper Kassen – entgehen lassen, ist einfach unverständlich.

Wie verfälscht Europas Blick auf Antimafia-Maßnahmen ist, zeigt das Schicksal der 2012 eingerichteten Antimafia-Kommission CRIM. Da die drei Vorsitzenden alle aus Italien kamen (Sonia Alfano, Rosario Crocetta, Salvatore Jacolino), wurde die Arbeit dieser Kommission so wahrgenommen, als sollten hier von Italienern italienische Probleme gelöst werden. Inzwischen ist die Kommission aufgelöst. Die Europaparlamentarierin Laura Ferrara (Fünf-Sterne-Bewegung) erzählt, sie habe in Brüssel oft den Vorwurf gehört, dass die Gefahr durch die Mafien lediglich „eine fixe Idee von Italienern“ sei.

Ein weiteres Problem sind die großen Unterschiede in den Rechtssystemen. Eine anfangs angestrebte Harmonisierung scheint nicht möglich, und so ist die aktuelle Aufgabe Europas darin zu sehen, einen gemeinsamen Ausgangspunkt zu finden, von dem aus man wirkungsvoll gemeinsam das Problem der Mafien angehen kann. Im Moment können sich die Mafien und OK-Gruppen die „Löcher“ in der Gesetzgebung bestens zu nutze machen.

Uneins ist man sich auch über die Prioritäten: Der Direktor von Transcrime z.B. hält einen europäischen „416 bis“ für zweitrangig. Für ihn steht an erster Stelle eine einheitliche Gesetzgebung zur Beschlagnahmung und Konfiszierung von Mafia-Besitz, um die Grenzen zwischen kriminellem und legalem Kapital wieder sauber zu ziehen. Den „Rest“ könne eine verstärkte Kooperation der Polizeien und eine verbesserte Ausbildung der Polizei erledigen.

Ob mit diesem Vorschlag auch andere Probleme gelöst werden können? Z.B. die unterschiedlichen Regelungen für Maßnahmen der Ermittler (Datenspeicherung, Abhören von Telefonaten usw.), z.B. die in verschiedenen Ländern automatische Löschung von Vorstrafen nach wenigen Jahren, z.B. die offenen Grenzen Europas, die aber nicht für Polizeien und Staatsanwälte gelten (Anm.3), z.B. die in Italien gültige „Beihilfe zu Mafia-Vergehen“, die in anderen Ländern nicht bekannt ist.

(1) Zugehörigkeit zur Mafia ist ein Straftatbestand, ohne dass der Beweis durch ein begangenes Verbrechen geführt werden müsste; Und: Mafiabesitz kann beschlagnahmt und konfisziert werden.

(2) Bei der in Italien gültigen Beweislastumkehr muss der Beschuldigte beweisen, dass seine Einkünfte und sein Besitz aus legalen und nachweisbaren Quellen stammt.

(3) Behörden müssen bei grenzüberschreitender Kooperation zuerst ein Amtshilfeverfahren einleiten.

  1. Blick nach Deutschland

Die wichtigsten Mafien sind die `Ndrangheta, die türkische Mafia und russisch-sprachige Mafien (aus Georgien, Litauen, Russland).

Der Antimafia-Staatsanwalt Roberto Scarpinato aus Palermo warnte im April 2014: „Die Mafia in Deutschland will, dass die Deutschen denken, sie existiere nicht. Sie braucht keine Gewalt mehr anzuwenden, sie kann mit ihrem Kapital verführen. Länder wie Deutschland gehen ein hohes Risiko ein. Wenn man sich nicht für die Herkunft des Kapitals interessiert (…) dann ist die Ethik eines Volkes in Gefahr. (…) Deutschland muss entscheiden, ob es die Mafia haben oder bekämpfen will!“

Warum Deutschland ein Paradies für die Mafien ist:

  • Die Zugehörigkeit zur Mafia ist kein Verbrechen und die mafia-eigenen Firmen und Restaurants werden praktisch nie beschlagnahmt.
  • Das BKA kennt namentlich ca. 500 Mafiosi (300 `Ndrangheta, 100 Cosa Nostra und Stidda, 90 Camorra), geht aber von „mindestens 1200 Mafiosi“ aus, die in Deutschland Verbrechen begehen.
  • Die Mafia verdient mit legalen (Restaurants, Immobilienkauf) und illegalen Geschäften (Drogen, Waffen, Geldwäsche). Ein Ziel ist Geldwäsche und Investition von illegal erwirtschaftetem Geld, das andere Ziel ist die Kontrolle des Territoriums, indem z.B. die zum `Ndrangheta-Clan Grande Aracrì gehörenden Restaurants an strategisch wichtigen Punkten errichtet werden.
  • Mafia-Ermittlungen werden seit 1998 immer seltener, obwohl z.B. die Hochburgen der `Ndrangheta Baden-Württemberg, NRW, Hessen und Bayern sind.
  • Die deutsch-schweizerischen Ermittlungen „Crimine“, „Helvetia“ und „Rheinbrücke“ haben die Existenz von `Ndrangheta-Zellen bewiesen, die auch Initiationen durchführen (von der Polizei gefilmt in Singen 2009); da aber die Zugehörigkeit zur Mafia keine Straftat ist….
  • Eine der Hauptaktivitäten der `Ndrangheta ist die Gastronomie. Die Restaurants dienen als Logistik-Zentren, als Generalquartier für Treffen, als Knotenpunkt für Waffen- und Drogenhandel.
  • Die Cosa-Nostra-Operation „Scavo“ im Raum Köln, initiiert von der italienischen Polizei und mit durchgefüht von der deutschen Polizei, erwies, dass ein Mafioso aus Licata (Sizilien, Provinz Agrigent) den Auftrag hatte, die Baumafia im Raum Köln zu koordinieren: Es handelt sich um ein Netz von 430 Baufirmen, die alle von Strohleuten eröffnet worden sind.
  • Seit dem Attentat von Duisburg 2007 verfolgen die Mafien die Taktik der Unsichtbar-keit, um ihre guten Geschäfte in Deutschland nicht noch einmal zu gefährden. Laut BKA und LKA werden nicht nur Geschäfte mit Waffen, Drogen, Erpressungen, Falschgeld gemacht, sondern die Italienischen Mafien haben inzwischen auch Zugang zu staatlichen Bauaufträgen, sie infiltrieren den Nahrungsmittelsektor und das Gesundheitssystem, die Abfallbeseitigung – und sie beantragen öffentliche Gelder für diese Geschäfte.
  • Ein Ermittler: „In Politik und Polizei denken viele, sie hätten alles unter Kontrolle, dass die Mafia kein Problem sei. Ganz falsch! Die Mafien haben sich hervorragend ausgedehnt, sie sind schon in die Gesellschaft eingedrungen und schütteln den Leuten, die was zu sagen haben, die Hand: Politikern, Staatsanwälten, Polizisten, Journalisten…“

    Moderne Zeiten

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