Weitere Stimmen aus Italien – eine Auswahl
Franco Roberti, ehemaliger nationaler Antimafia-Staatsanwalt, jetzt Abgeordneter im Europaparlament, wird zur Meldung der Zeitung Il Mattino befragt, dass Angehörige und Gefolgsleute der Camorra in Neapel Einkaufstüten mit Nudeln, Brot und anderen lebenswichtigen Lebensmitteln kostenlos verteilen: „Die Camorra ist System. Es handelt sich dabei um Werbung für einen ganz bestimmten Lebensweg – Camorra – von der Wiege bis zur Bahre.“ Die Strategie sei, damit neue Anhänger und Komplizen zu gewinnen, auch im Bereich der Wirtschaft. Auf die Frage, ob die Camorra eine eigene Methode habe, sich in der lokalen Wirtschaft breitzumachen, verweist Roberti darauf, dass in Neapel seit dem Zweiten Weltkrieg neben dem legalen Markt der vielleicht noch größere Schwarzmarkt existiere. Er werde von den Behörden toleriert, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten und um ganzen Bevölkerungsgruppen das Überleben zu ermöglichen, die andernfalls wegen des Mangels an legaler Arbeit „verschwinden“ müssten. Die aktuelle Krise sei vielleicht die letzte Gelegenheit zu beweisen, dass der Staat, wenn er will, stärker sein kann als die Camorra.
Giuseppe Lombardo, Antimafia-Staatsanwalt in Reggio Calabria, analysiert das Verhalten der `ndrangheta: In der ersten Phase der Krise ziele das Vorgehen darauf, den bisher bekannten kriminellen sozialen Kontext nicht zu destabilisieren, man bevorzuge deshalb eine „Tätigkeit in der Stille“. Sobald aber die Zahlen zurückgingen, die Notsituation sich abschwäche, würde die `ndrangheta versuchen, die neuen Szenarien im Bereich der Wirtschaft und der Finanzen in Italien und im Ausland ganz genau zu erforschen. In dieser Phase würden weltweit Analysten von den großen Mafien beauftragt, die einträglichsten produktiven Sektoren zu ermitteln, in die dann die immensen Summen kriminellen Geldes fließen könnten- An der Spitze der `ndrangheta liefen dann die Planungen für das bisher größte „Finanz-Doping“ aus Mafia-Kapital, das die Welt in jüngster Zeit gesehen hätte. Die Aufgabe der „Basis“ werde es sein, die Rolle der `ndrangheta als „atypischer sozialer Stabilisator“ zu festigen und mit zinslosen Darlehen mittellosen Privatpersonen und Unternehmern kurz vor der Insolvenz unter die Arme zu greifen. Die Vertreter der Kommandozentrale der `ndrangheta würden zunächst einmal das Ziel verfolgen, das Überleben breiter Bevölkerungsschichten zu garantieren, die für jede Art illegalen Markt tätig sind und deshalb keinen Anspruch auf staatliche Hilfen anmelden können. Man werde selbstverständlich auch nicht darauf verzichten, das so erworbene Ansehen in der Bevölkerung für die eigenen Zwecke zu nutzen. Außerdem, so Lombardo, werde man sich die Situation zunutze machen, dass die nötigen Summen für die Bewältigung der Krise durch den Staat fehlten und dass lediglich illegales Kapital sofort verfügbar und völlig flexibel einsetzbar sei: Die großen Mafia-Organisationen, befürchtet der Staatsanwalt, würden sich nicht mehr damit begnügen, sich kleine oder große Betriebe anzueignen, sie werde noch mehr als bisher versuchen, ihre Stellung im Bereich der essentiellen Dienstleistungen zu festigen. Er nennt hier den Banken- und Finanz-Sektor, das gesamte Gesundheitswesen, die Pharma-Industrie und alle lebenswichtigen Produkte. Dass dies geschehe, müsse zum Schutz der legalen Wirtschaft unbedingt durch eine sofortige Reform der Antimafia-Gesetzgebung verhindert werden.
Täglich liest man von ähnlich lautenden Warnungen, die auch die sog. Phase 2 der Krise einbeziehen.
Stellvertretend dafür die schriftliche Stellungnahme des Chefs der Staatspolizei und Leiter der Hauptabteilung für innere Sicherheit im Innenministerium in Rom Franco Gabrielli: Interpol hat den Text an 194 Regierungen verschickt, die zur Organisation Interpol gehören, denn in ihm werden die möglichen Auswirkungen der Corona-Krise auf die Aufgaben der Polizei und auf die Entwicklung der OK beschrieben. Die Corona-Krise stelle eine Situation dar, wie man sie sich schlimmer nicht vorstellen könne. Sie berge das Risiko eines „Finanz-Dopings“ durch Gelder krimineller Herkunft und das eines parallelen Sozialsystems, das von den großen Mafia-Organisationen finanziert und organisiert werde. Heute verteilten die Mafien im Süden Italiens Grundnahrungsmittel an die Familien, die nicht auf die Ankunft der von der Regierung angekündigten Essensgutscheine warten könnten. Außerdem hätten sie einen Generalerlass auf die Bezahlung von Kreditzinsen erlassen. In Phase 2 könnte der Druck durch die Mafien geradezu explodieren. Entscheidend sei deshalb schon heute die Strategie, die von den Polizeikräften entwickelt werde, wenn man den Rechtsstaat aufrecht erhalten und die Wirtschaft vor der Vergiftung durch die OK bewahren wolle. Nach einer Analyse der aktuellen Situation, die im Wesentlichen der von Giuseppe Lombardo entspricht, nennt er die vier Maßnahmen, die deswegen jetzt getroffen werden müssen: 1. Die Kontrolle der betroffenen Infrastrukturen muss verschärft, die Maßnahmen im Bereich der Prävention müssen verstärkt und wirkungsvoller gemacht werden. 2. Es müssen größtmögliche Anstrengungen im Bereich der Ermittlungsarbeit unternommen werden, um zu sehen, in welcher Weise sich die kriminellen Organisationen neu aufstellen. 3. Die Wirtschafts- und Finanzkreisläufe müssen genauestens analysiert und kontrolliert werden, um zu vermeiden, dass Mafia-Kapital in die legalen Kreisläufe eingeschleust wird. 4. Und da die bestbezahlten Analysten schon am Werk seien, um für die Mafien die nach der Corona-Krise profitabelsten Gelegenheiten zu prüfen, müsse man die Mafia-Infiltration bei den „großen Bauwerken“ (in Italien z.B. die Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke Turin-Lyon) verhindern und die transnationale Zusammenarbeit der Polizeikräfte verstärken und weiter ausbauen.
Problemfeld Gefängnisse: Gleich nach Ausbruch der Corona-Krise, als die Regierung Anfang März die Besuche von Angehörigen in den Gefängnissen stoppte, gab es über ganz Italien verteilt gleichzeitig (zwischen dem 7. Und 9. März) heftige Revolten in 22 Haftanstalten. Die Ermittlungen dazu gehen inzwischen von einer okkulten Regie aus dem Kreis der Mafiaorganisationen aus, während die konkrete Ausführung Aufgabe von Kleinkriminellen war. Das Ergebnis: zig geflohene Häftlinge, zig Verwundete, 22 Tote (laut Behördenangaben seien alle an einer Überdosis Methadon oder anderer Medikamente verstorben, die sie in den Gefängnisapotheken gestohlen hatten.). Ziel der Aktion: Die Themen Amnestie, Straferlass und Hafterleichterung wieder zur Tagesordnung machen. Und die Strategie hatte Erfolg: Verschiedene Stimmen verlangen z.B. für mindestens 10 000 Häftlinge die Haft durch Hausarrest zu ersetzen, während vor allem Vertreter der Justiz darin ein Nachgeben des Staates auf einen Erpressungsversuch der Mafien sehen.
Nino Di Matteo meint, „selbst wenn es sich tatsächlich nicht um eine Kapitulation des Staates gegenüber der Mafia handelt, es könnte danach aussehen“. Noch deutlicher wird Nicola Gratteri: „Wenn ich Justizminister wäre, würde ich jetzt zuerst alle Haftanstalten gegen jedes Telefonsignal abschirmen. Es ist doch kein Zufall, dass die Revolten über eine Distanz von über 1000 km gleichzeitig ausbrechen. Das passiert, weil die Gefängnisse voller Handys sind. Wie könnte es sonst sein, dass um 10 Uhr morgens eine Revolte in Foggia ausbricht und zur gleichen Uhrzeit eine in Modena?“ Wen die genauen (und interessanten) Ergebnisse der bisherigen Ermittlungen interessieren:
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Die Mafien in Zeiten des Corona-Virus – Antimafia-Experten schlagen Alarm
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