Cum-Ex-Skandal: Sie dürfen die Beute behalten!

Umstrittenes „Lex Cum-Ex“ Geld ist wohl in vielen Fällen weg.

Von Parlamentariern und Öffentlichkeit unbemerkt hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das weitreichende Folgen im Cum-Ex-Skandal haben könnte – nach Recherchen von WDR und SZ könnten Milliarden verloren gehen.

Massimo Bognanni berichtet: Bundesfinanzminister Olaf Scholz zeigt sich gern entschlossen im Kampf gegen den milliardenschweren Steuerbetrug Cum-Ex. Mit neuen Gesetzen, so die Schlagzeilen Mitte Juni, trete der Sozialdemokrat die Flucht nach vorne an. Kurz darauf ließ Scholz den Worten Taten folgen. Eigentlich war das zweite Corona-Steuerhilfegesetz dazu gedacht, die Wirtschaft in Zeiten der Pandemie zu stützen.

Doch das Scholz-Ministerium brachte darin auch neue Bestimmungen auf den Weg, die manche als „Lex Cum-Ex“ bezeichnen – etwa den neuen Paragraph 375a in Deutschlands „Steuergrundgesetz“, der Abgabenordnung. Die neue Bestimmung soll es Staatsanwaltschaften ermöglichen, die Cum-Ex-Beute von Banken und anderen Beteiligten nach einer Verurteilung einzuziehen. Und zwar auch dann noch, wenn die Fälle steuerlich bereits verjährt sind. Bislang war diese Frage nicht klar geregelt – und hochumstritten.

Auch Experten merkten nichts

So gut der neue Paragraph wohl gemeint war, so schwerwiegende Folgen dürfte seine konkrete Ausgestaltung jetzt haben. Nach Recherchen von WDR und „Süddeutscher Zeitung“ (SZ) bewirkt das neue Gesetz in vielen Fälle genau das Gegenteil. Milliarden an Steuergeldern, die sich Banker, Aktienhändler und Berater mit ihren Cum-Ex-Geschäften ergaunert haben, sind demnach verloren. Selbst, wenn die Täter verurteilt würden, dürften die beteiligten Finanzfirmen in diesen Fällen ihre Beute behalten: Steuergeld, das ihnen nicht zusteht.

Grund ist eine Einschränkung, die der Deutsche Bundestag ebenfalls mit dem zweiten Corona-Steuerhilfegesetz verabschiedet hat. Demnach gilt der neue Paragraf 375a gerade nicht für Altfälle, die steuerlich bereits verjährt sind.

Selbst beteiligten Finanz- und Rechtsexperten im Bundestag ist diese Feinheit durchgegangen – etwa dem finanzpolitischen Sprecher der Linkspartei, Fabio De Masi. „Das ist in dieser Hektik mit dieser Corona-Pandemie immer begründet worden mit „wir müssen jetzt schnell Abhilfe schaffen“.“ Mit dem Ergebnis ist der Oppositionspolitiker unzufrieden. De Masi hält es für „in hohem Maße unglaubwürdig“, wenn man einigen Banken nun Rechtssicherheit verschaffe, dass sie ihre kriminellen Cum-Ex-Erträge behalten können.

Finanzämter scheuen Prozessrisiko

Nach Angaben von Ermittlern, ist eine große Zahl der mutmaßlichen Betrügereien, die Anfang der 2000er-Jahre bis Ende 2011 auf Hochtouren liefen, steuerlich verjährt. Die Finanzämter hatten die komplexen-Aktienkreisgeschäfte nicht erkannt oder ihnen war die Rechtslage zu unsicher, um das Geld mit Haftungsbescheiden zurückzufordern und somit teure Rechtsstreitigkeiten mit Banken zu riskieren.

NRW-Justizminister Biesenbach will den möglichen Milliardenverlust nicht hinnehmen.

Nordrhein-Westfalens Justizminister Peter Biesenbach will das nicht hinnehmen: „Ich halte es für unerträglich, wenn wir sagen, wir verurteilen zwar möglicherweise Personen zu Haftstrafen, aber das Geld ist weg, an das kommen wir nicht mehr ran. Hier muss eine Regelung gefunden werden, das können wir niemandem sonst erklären.“ Der CDU-Politiker fordert eine Diskussion darüber, wie auch Altfälle noch erfasst werden können. „Hier geht es um Beträge, bei denen auch die Ermittler davon ausgehen, dass sie in die Milliarden hineingehen“, so Biesenbach.

Ministerium verweist auf Rückwirkungsverbot

Das Bundesfinanzministerium (BMF) erklärt auf Anfrage, mit dem neuen Gesetz könnten noch nicht verjährte Taterträge nun länger eingezogen werden. Was bereits verjährte Fälle anbelangt, seien ihm die Hände gebunden. „Für bereits verjährte Steueransprüche ist eine Einziehung nicht zulässig“, hieß es aus dem Ministerium. Grund sei das in Artikel 20 des Grundgesetzes verankerte Rechtsstaatsprinzip.

Für belastende Gesetze gelte ein grundsätzliches Verbot einer Rückwirkung. Mit anderen Worten: Wer von einem Gesetz betroffen ist, muss darauf vertrauen können. Der Gesetzgeber darf deshalb normalerweise nicht rückwirkend die Regeln ändern.

Verfassungsrechtler sieht mögliche Lösung

Grundsätzlich habe das Bundesfinanzministerium recht, bestätigt der Verfassungsrechtler Simon Kempny von der Universität Bielefeld. Doch Ausnahmen vom Rückwirkungsverbot seien durchaus möglich. Letztlich müsste das Bundesverfassungsgericht darüber richten. „Um die Frage zu entscheiden, ob Altfälle mit einbezogen werden dürfen, kommt es für das Bundesverfassungsgericht darauf an, ob der Gesetzgeber damit einen legitimen gesetzgeberischen Zweck verfolgt und für diesen Zweck die Einziehung der Altfälle erforderlich und verhältnismäßig ist“, so Kempny.

Der Universitätsprofessor sieht durchaus Chancen, dass das neue Gesetz auch ohne zeitliche Beschränkung vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben könnte. Warum das BMF nicht zumindest den Versuch unternimmt, ein solches Gesetz zu erlassen, kann er nicht nachvollziehen. Ein Vertrauen darauf, Vermögensvorteile aus strafbaren Cum-Ex-Geschäften behalten zu dürfen, sei verfassungsrechtlich nicht schutzwürdig. Der Gesetzgeber verzichte ohne juristische Not auf ein Stück politische Wirkmacht.

„Das Verfassungsgericht kann seine Rechtsprechung zum Vertrauensschutz nur weiterentwickeln, wenn man ihm Fälle gibt“, erklärt Kempny. „Wenn der Gesetzgeber aus vorauseilender Sorge eine Gesetzesänderung unterlässt oder zusammenstreicht, kommt es aber erst gar nicht dazu.“

NRW-Justizminister hofft auf Karlsruhe

NRW-Justizminster Biesenbach sieht das ähnlich: „Wir haben hier eine Steuerhinterziehungsindustrie erlebt und erleben sie noch, die immer komplett darauf aus war, zu verschleiern und zu verdecken. Und wir erleben auch heute noch, dass die betroffenen Banken und Institute überhaupt nicht kooperationsbereit sind. Hier herrscht ein so überbordendes Allgemeininteresse, dass es aus meiner Sicht angemessen ist, sich über die Rückwirkung hinwegzusetzen.“ Am Ende müsse das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entscheiden.

Offenbar ist man inzwischen auch beim BMF nicht ausnahmslos glücklich mit der Neuregelung. Zumindest kündigte das Scholz-Ministerium gegenüber WDR und SZ an, sich eng mit dem Bundesjustizministerium abzustimmen, um eine mögliche Verbesserung bei den Altfällen zu erzielen. Das Haus betont: „Für die Bundesregierung ist es von großer Wichtigkeit, dass die Taten aufgeklärt, die Täter bestraft und Taterträge entzogen werden.“
Tagesschau.de
Süddeutsche.de
Neues Gesetz hilft Betrügern /N-TV

Bundestag.de/leichte Sprache/Was macht der Bundestag/Gesetzgebung
Die Abgeordneten machen die Gesetze.

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