Erste bundesweite Antimafia-Tagung

Konferenz für Freiheit und Sicherheit in Europa 12.Juli 2017, Berlin, Italienische Botschaft.

Der unmittelbar nach dem `Ndrangheta-Attentat von Duisburg 2007 gegründete Berliner Verein „Mafia? Nein danke1“ organisierte in Zusammenarbeit mit der italienischen Botschaft in Berlin und der Europäischen Bewegung Deutschland die erste bundesweite Antimafia-Tagung in Deutschland.

Nach Berlin gekommen waren zahlreiche hochkarätige Referenten aus Deutschland und Italien, aus verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, wodurch deutlich wurde, dass jeder auf seine Weise zum Kampf gegen das organisierte Verbrechen in Europa beitragen kann.

Es folgt eine subjektive Sammlung von Informationen, die mir besonders interessant erscheinen: Referenten der Antimafia Tagung


„Die Mafia existiert nicht, und falls doch, dann habe ich da eben geschlafen.

Wie begegnen wir der organisierten Kriminalität in Europa
„Folgt der Spur des Geldes – und Ihr trefft auf die Mafia“
Frauen und Kinder leiden unter Korruption

Italien: „Die `Ndrangheta ist überall“

Rosy Bindi, Präsidentin der parlamentarischen Antimafia-Kommission, und Franco Roberti, Nationaler Antimafia-Staatsanwalt, zugleich verantwortlich für die Direzione Nazionale Antimafia (DNA), stellten am 22. Juni ihren Jahresbericht vor: Die `Ndrangheta ist überall in Italien zu finden, d.h. in den empfindlichen Positionen von Politik, Öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft. Auf diese Weise kann die kalabrische Mafia inzwischen die staatlichen Investitionen steuern.

Rosy Bindi con il procuratore nazionale Antimafia Franco Roberti (© Ansa)

(Quelle: Artikel Repubblica)

 

 

Hier einige interessante Ergebnisse des Jahresberichts:

  1. Gesamtsituation:

Trotz zahlreicher Festnahmen und vieler Mafia-Prozesse im Jahre 2016 geht es den Mafien in Italien sehr gut, vor allem der `Ndrangheta. Man kann höchstens von einigen Irritationen im Innern der Mafien sprechen, wenn es gilt, die durch Festnahmen und Verurteilungen entstandenen Lücken in der jeweiligen Organisation zu schließen oder sich an neue Erfordernisse des Marktes anzupassen. Ausnahme ist die Stadt Neapel, in der die „Lücken“ zu blutigen Kriegen zwischen den Clans und zur Machtübernahme durch jugendliche Bosse geführt haben. Man beobachtet eine neue Strategie, sich der Kontrolle des Territoriums zu versichern, die aber genauso wirksam ist wie die alte (s.u. 5.)

  1. Die Mafia in der Politik:

Die Mafien sind dabei, durch die Strategie der Gewinnung von Komplizen im Staat (collusione) und der Korruption sich eine Position im Staat zu erarbeiten, von der aus sie das Schicksal und die Prozesse in der Wirtschaft bestimmen können. Damit können sie mafiöse Firmen und solche, die mit ihnen zusammenarbeiten, begünstigen und die anderen vom freien Wettbewerb ausschließen. Durch die richtigen Komplizen in der Politik können sie den Einsatz von Steuergeldern steuern. Es geht nicht mehr darum, durch Bezahlung von Bestechungsgeldern an den öffentlichen Ausschreibungen lediglich teilzunehmen, jetzt versucht man, schon bei der Konzeption von Projekten mitzuarbeiten, um sie in eine bestimmte Richtung zu lenken.

  1. Vorgehen:

Die Anwendung von Gewalt ist zur ultima ratio geworden, da sie Aufmerksamkeit erregt und die Zustimmung in der Bevölkerung mindert. Jetzt versuchen die Mafien, die Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet zu erreichen, sich Positionen in der Öffentlichen Verwaltung anzueignen, die Ausschreibung von staatlichen Bauaufträgen zu bestimmen, ganze Sektoren der Wirtschaft zu kontrollieren, indem sie sich ihre Verhandlungspartner gefügig machen. Dies gelingt ihnen, denn die klassische Mafiamethode der Gewaltanwendung und der Einschüchterung ist im kollektiven Bewusstsein ständig präsent.

  1. Aktualisierung der Antimafia-Gesetzgebung

Da die bisherigen Antimafia-Gesetze Bezug nehmen auf die traditionellen Methoden – Einschüchterung und Einsatz von Gewalt – die Mafien heute aber möglichst um Unsichtbarkeit bemüht sind, müssen die bestehenden Antimafia-Gesetze an das veränderte Vorgehen angepasst werden.

  1. Camorra: Die Stadt Neapel und vor allem die Altstadt sind in der Hand von sog. „Baby-Camorristi“, die nach neuen Regeln versuchen sich durchzusetzen und nicht die geringsten Bedenken haben, auf Gegner und Unbeteiligte zu schießen. In der Provinz jedoch ist der allgemeine Italientrend zu beobachten: Kein Blutvergießen, lieber selber entscheidende Positionen einnehmen oder Komplizen in Politik und öffentlicher Verwaltung gewinnen. Die Bosse sind dort keine „Generäle“ mehr, die über ein Heer von „Soldaten“ befehlen, sondern Geschäftsleute.
  2. Cosa Nostra: Trotz verschiedener Schwierigkeiten ist es der sizilianischen Mafia gelungen, sich weiter in alle Sektoren der Wirtschaft und Finanzwelt einzuschleusen. Durch weitgehenden Verzicht auf Gewalt und Machtkämpfe zwischen einzelnen Familien, durch das Einhalten der überkommenen Regeln ist es ihr gelungen, ihre Position auf der Insel zu konsolidieren und sich die Zustimmung in der Bevölkerung zu erhalten. Da nun zahlreiche Mafiosi ihre Strafe abgesessen haben und da sie in der Regel nach der Freilassung ihre kriminellen Aktivitäten wieder aufnehmen, muss der Mafia-Paragraph 416 auch an diese Situation angepasst werden. – Positiv zu vermerken ist, dass in Palermo Cosa Nostra sichtbar den Rückhalt in der Bevölkerung verliert. Außerdem ist die Zahl der Anzeigen bei der Polizei deutlich angestiegen.
  3. `Ndrangheta: Sie ist die Mafia, der es am besten geht. Unglaubliche Gewinne sind ihr möglich, weil sie Politik, Verwaltung und Wirtschaft ganz durchdringt und weil es ihr gelungen ist, sich in die großen Geldströme auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene einzuklinken. Auch in Mittel- und Norditalien hat sie sich einen festen Stand erobert. An den sog. „großen Bauwerken“ verdient die kalabrische Mafia ebenfalls mit: 2015 bei der Expo in Mailand, jetzt bei den Baustellen der „TAV“-Strecken (=Treni di Alta Velocità: Hochgeschwindigkeitszüge), und bei der Konstruktion von Anlegeplätzen in den verschiedenen Häfen Italiens. Die `Ndrangheta ist in Italien zu einer Gefahr für die Demokratie geworden. Dies zeigt u.a. die Entdeckung eines strategischen Führungsgremiums der `Ndrangheta` durch kalabrische Staatsanwälte. Zu ihm gehören laut Staatsanwaltschaft 1. ein ehemaliger Parlamentarier, Freimaurer, mit langjährigen Verbindungen zur subversiven Rechten,2. ein Rechtsanwalt mit Sitz in einem Kommunalparlament, der mit einem der gefährlichsten Clans der `Ndrangheta verwandt ist, 3. ein wichtiger Abteilungsleiter in der kalabrischen Verwaltung, 4. ein ehemaliger Staatssekretär und 5. ein Mitglied des römischen Senats, für dessen Festnahme der Senat die Immunität aufgehoben hat. Dieses Gremium hat die Wahlen in Kalabrien (2002 bis heute) bestimmt. Es ging dabei nicht um den klassischen Kauf von Wählerstimmen, sondern um eine strategische Planung, welche Kandidaten, welche politischen Gruppierungen geeignet seien, der kriminellen Organisation Staatsaufträge und Aufträge und Arbeiten jeder Art zu garantieren. Die „Santa“ (die Heilige), so der Name dieses neuen Führungsgremiums, ist somit in der Lage, zunächst auf lokaler Ebene zu bestimmen, wer für welche Position gewählt werden soll, aber wie das Beispiel des Senators zeigt, reicht ihr Einfluss auch auf nationale und sogar bis auf die europäische Ebene.

Außer in nahezu allen Regionen Italiens ist die `Ndrangheta in verschiedenen europäischen Staaten, in den USA, Kanada und in Australien aktiv. Darüber hinaus pflegt sie beste Beziehungen zu den kriminellen Organisationen in Mittel- und Südamerika. Im Kokainhandel hat sie die absolute Vormachtstellung in Europa.

“Es ging ihm hervorragend, dann kam aber der Typ im Fernsehen, der gesagt hat: „So wie wir die Mafia besiegt haben, so werden wir auch den Terrorismus besiegen.“

www.vignetteagj.blogspot.de/2015/11/

Quellen:
Repubblica.it
Antimafiaduemila.com
Huffingtonpost.it

 
Frauen und Kinder leiden unter Korruptionm
Folgt der Spur des Geldes – und Ihr trefft auf die Mafia
Learn more about corruption

Antimafiarichter Giovanni Falcone

25. Jahrestag des Attentats auf den Antimafiarichter Giovanni Falcone (23. Mai 1992)

Autobahn A 29, die den Flughafen Punta Raisi mit Palermo verbindet, Ausfahrt Capaci:
Am 23. Mai 1992, 17.58 zündeten zwei Mafiosi von einem Hügel über der Autobahn aus eine Ladung von 500 kg Sprengstoff, der in einem Drainagerohr unter der Fahrbahn deponiert war. Bei dem Attentat wurden der Antimafiarichter Falcone, seine Ehefrau Francesca Morvillo, ebenfalls Richterin, und drei Männer seiner Eskorte getötet, es gab insgesamt 23 Verletzte.

Zwei Prozesse konnten klären, wer für die konkrete Ausführung des Attentats verantwortlich war – Männer der Cosa Nostra. Auftraggeber waren die Mafiabosse Totò Riina, Bernardo Provenzano und Leoluca Bagarella aus Corleone. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Caltanissetta zu den „Geheimen Auftraggebern“, gemeint sind Auftraggeber in den Reihen der Politik, führten allerdings zu keinen konkreten Ergebnissen. Wer z.B. die genauen Daten über Falcones Ankunft am Flughafen an die Cosa Nostra verraten hat, ist bis heute nicht geklärt.

Und die Motive? Kronzeugen nennen einmal Rache für die Strafen im Maxiprozess: Im Januar desselben Jahres waren die Urteile aus 1. und 2. Instanz vom Kassationsgericht endgültig bestätigt worden, und dies war für die Mafia etwas nie Dagewesenes, denn davor waren sie fast immer freigesprochen worden. Ein wichtiges Motiv sei auch gewesen, die Wahl Giulio Andreottis zum Staatspräsidenten zu verhindern, der nicht dafür gesorgt hatte, dass die Urteile im Maxiprozess im Sinne der Mafia manipuliert worden waren. Als Motiv der „okkulten Auftraggeber“ vermutet man, dass Giovanni Falcone höchst unbequem geworden war, da er mit seinem Kollegen Paolo Borsellino Ermittlungen zum Problem „Öffentliche Ausschreibungen und Mafia“ aufgenommen und damit die Politik und die Verwaltung in den Focus genommen hatte.

Wer war Giovanni Falcone?

Falcone war einer der Ermittlungsrichter des Maxiprozesses von Palermo (1986 bis Januar 1992), der als der weltweit größte jemals abgehaltene Strafprozess gilt. Der eigentliche Erfolg des Prozesses besteht aber nicht in der Zahl der angeklagten Mafiabosse (475) oder in den verhängten Strafen (19 Mal lebenslänglich + 2665 Jahre Gefängnis), sondern darin, dass in dritter Instanz die Strafen definitiv bestätigt wurden, wodurch das oberste Mafia-Gremium, die sog. Cupola, durch Anwendung der bestehenden Antimafia-Gesetze besiegt werden konnte. Durch seine Arbeit mit dem Kronzeugen Tommaso Buscetta und mit seinen innovativen Ideen für den Kampf gegen die Mafia wurde Falcone weit über die Grenzen Italiens hinaus bekannt. Das FBI von Quantico, USA, ehrt sein Andenken mit einer Statue in den eigenen Amtsräumen. Für die italienische Antimafia-Bewegung ist er auf Grund seiner persönlichen Integrität, seines Glaubens an die Werte der Verfassung der italienischen Republik und seines unermüdlichen Einsatzes im Kampf gegen die Mafia eine Symbolfigur, ein Vorbild. Allerdings: Erfolg schafft Neider. Insofern ist der Weg Falcones auch voller Beispiele, wie man ihn mit Vorwürfen und Unterstellungen versuchte zu stoppen: Er sei ein Karrierist und machthungrig und wolle nur ständig im Rampenlicht stehen. Solche Gegner fanden sich unter den eigenen Kollegen, im obersten Justizorgan, dem CSM, unter Journalisten und Politikern, so dass es wirklich plausibel ist, dass an dem Attentat von Capaci auch Personen außerhalb der Mafia Einfluss genommen haben.

Als die Nachricht von den Medien verbreitet wurde, feierten die inhaftierten Mafiosi im Ucciardone (Gefängnis von Palermo), nicht ahnend, dass dieses Mal die Aufregung über die Ermordung eines hochrangigen Mannes aus den Institutionen nicht nach paar Tagen vorbei sein würde. Die Ermordung Giovanni Falcones und die bald darauf folgende Ermordung seines Kollegen und Freundes Paolo Borsellino hat die Öffentlichkeit und die Politik nicht mehr einfach so hingenommen. Dass aber neben den für alle sichtbaren Ereignissen, die dann folgten, im Geheimen Verhandlungen mit Cosa Nostra aufgenommen wurden, um die Serie der blutigen Attentate zu stoppen, damit beschäftigt sich der seit 2014 laufende Prozess zur „trattativa“. Aber das ist eine andere Geschichte.

Den besten Artikel, den ich je über Giovanni Falcone gelesen habe (auf Italienisch) findet man hier:

Strage di Capaci / I resti dell’auto scorta di Giovanni Falcone

England: Politik und Mafia

England und die Mafia: Einladung an Antimafiastaatsanwalt aus Palermo – aber Personenschutz wird ihm verweigert

Nino Di Matteo, Vertreter der Anklage im Prozess um die sog. „trattativa“ (Verhandlungen des italienischen Staates mit Cosa Nostra), wurde Anfang Mai von der Italian Society, von Al Jazeera und Cinema Italia UK an das King’s College nach London eingeladen, um dort einem internationalen Publikum die aktuelle Situation im Kampf gegen das globalisierte System der Mafien zu schildern.

Kurz darauf musste der italienische Staatsanwalt seinen Besuch absagen, weil in Großbritannien Personenschutz lediglich ausländischen Regierungsvertretern bei offiziellen Staatsbesuchen gewährt wird. In Italien jedoch hat Di Matteo den Schutz eines Staatsoberhauptes, denn Cosa Nostra hat mehrfach die Absicht bekundet, ihn aus dem Weg zu räumen, da er sich „zu weit vorgewagt“ habe.

Die Veranstaltung begann – ohne den Gast aus Palermo – mit der Projektion des Videos
A very Sicilian Justice“, in dem Nino Di Matteo, der Prozess zur „trattativa“ und die Hintergründe der Morddrohungen gegen ihn dokumentiert werden. Von Di Matteo konnte lediglich eine kurze Rede verlesen werden, an die sich Beiträge verschiedener Referenten und eine Diskussionsrunde anschlossen.

Die Weigerung, Di Matteo Personenschutz zu gewähren, wurde in Italien und Großbritannien von am Thema interessierten Kreisen indigniert zur Kenntnis genommen:

Saverio Lodato bemerkt, dass „die internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die Mafien, die so oft lautstark und wortreich von Politikern verkündet wird, doch sehr zu wünschen“ übrig lasse. Seine Kritik richtet sich auch gegen den italienischen Außenminister Angelino Alfano, der, so Lodato, gerne ein Nickerchen macht, wenn es darum geht, sich für das Thema Antimafia einzusetzen. Offensichtlich habe er nichts unternommen, um die britische Regierung von der Notwendigkeit des Personenschutzes für den gefährdeten Staatsanwalt zu überzeugen.

A Very Sicilian Justice: Taking on the Mafia

Toby Follet, Produzent des Dokumentarfilms „A very Sicilian Justice“, gibt seinem Kommentar den Titel „Ein Schweigen, das „very british“ ist“. Er wiederholt eingangs die von Lodato geäußerte Kritik: von wegen „internationale Zusammenarbeit“!

Dann gibt er weitere Hintergrundinformationen: Di Matteo war am selben Tag von einer Gruppe des englischen Parlaments eingeladen, um einen Vortrag zum Thema „Korruption und die internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die Mafien“ zu halten. Eingeladen waren Minister, Politiker, Lords, Ladies, Richter und Staatsanwälte und wichtige Regierungsvertreter. In der Debatte im Westminster Palace hätte außerdem der englische Minister für Sicherheit Ben Wallace seinen neuen Gesetzentwurf zum „Problem der organisierten Kriminalität und der Geldwäsche, unter besonderer Berücksichtigung der berüchtigten Offshore-Gerichtsbarkeit“ vorstellen sollen.

Es sei nicht bekannt, ob die Absage der Debatte am 3. Mai und die Weigerung, Di Matteo eine Eskorte zu gewähren, vom plötzlichen Beschluss des englischen Premiers, Theresa May, beeinflusst war, Neuwahlen für den 8. Juni anzukündigen (damit einher ging die Auflösung des Parlaments am Tag der Debatte im Parlament und der Veranstaltung am King`s College).

Die Absage der Parlamentsdebatte und die Tatsache, dass man auf Englands Straßen normalerweise keine Richter, Politiker oder Journalisten in Begleitung einer bewaffneten Eskorte sähe, könnten möglicherweise die Entscheidung der britischen Behörden mit erklären. Andererseits gehören „Mafia und Korruption“ nicht zu den Lieblingsthemen der englischen Regierung.

Die Londoner City mit ihrer Offshore-Rechtssprechung werden von Fachleuten für das wichtigste Zentrum weltweit für Geldwäsche angesehen. Der Gesetzesentwurf, den der Minister in der abgesetzten Debatte hätte präsentieren sollen, befasst sich vor allem mit den illegalen Geldströmen aus obskuren Quellen, die nach und durch London fließen. Abgesehen von dieser Gesetzesnovelle, so Follet, sei bisher nicht der mindeste Versuch der englischen Regierung um mehr Transparenz im Finanzsektor unternommen worden. Auch der Skandal um die multinationale Bank HSBC, mit deren Hilfe Gelder des mexikanischen Drogensyndikats Sinaloa gewaschen worden waren, hatte keine Konsequenzen für die Bank.

Es gebe ein Schweigen, das „very british“ sei, – in Italien heißt es „omertà“ – was die dunkle Seite des Finanzsektors angehe. In England bleibe man einfach bei der offiziellen Auffassung, dass Mafien und Geldwäsche nur ein Problem Italiens seien. Dass London ein Zentrum mafiöser Aktivitäten sei, davon wolle man nichts wissen. In den letzten 40, 50 Jahren hätten zahlreiche Mafia-Größen in London unbehelligt leben können.

Das neueste Beispiel? Massimo Carminati. Im Prozess „Mafia Capitale“ (Mafia in der Hauptstadt Rom) wird er beschuldigt, der Boss der in Rom tätigen Mafia zu sein. Die von den italienischen Presseorganen „L’Espresso“ und „Sole 24 Ore“ angestellten Ermittlungen hätten ergeben, dass er sich in den letzten 20 Jahren frei zwischen Rom und London bewegt hat, und dass das Zentrum seines Finanzimperiums tatsächlich die Londoner City sei. Verbittert bemerkt Follet, dass vermutlich die Manager der HSBC-Bank & company die Sektkorken knallen lassen und sich ins Fäustchen lachen, während einem gefährdeten Staatsanwalt wie Nino Di Matteo das Recht eines jeden freien Bürgers abgesprochen wird, sich in Sicherheit in einer europäischen Stadt bewegen zu können…
Un silenzio ‚very british‘

Der palermitanische Staatsanwalt Nino di Matteo mit Personenschützern:

 

Marilena Nardi
www.w-t-w.org/en/cartoon/marilena-nardi
www.marilenanardi.it

Und was lehrt uns das? Die Politik hat kein Interesse, das Problem Mafia-Geldwäsche-Korruption ernsthaft anzugehen, ob England, Italien oder Deutschland!

Dazu fällt mir ein Lied der italienischen Sängerin Mina ein: „Parole, parole, parole“ (Worte, Worte, nichts als Worte) oder das italienische Sprichwort: „Tra il dire e il fare c’è di mezzo il mare“ (Etwa: Zwischen Absichtserklärungen und den konkreten Taten erstreckt sich das Meer.)

Wie man Journalisten mundtot macht

Reski: Die Mafia schätzt an Deutschland die Stabilität, den Wohlstand – und den deutschen Rechtsstaat.

Aus dem Artikel des „Freitag“ „Die Bosse mögen’s deutsch“

Die in Venedig lebende deutsche Journalistin und Mafia-Expertin Petra Reski wird von einem italienischen Gastronomen aus Erfurt verklagt, weil sie seinen Namen in einem Artikel der Wochenzeitung „Der Freitag“ im Zusammenhang mit der kalabrischen Mafia genannt hat. Der Verleger Jakob Augstein lehnt jede Mitverantwortung ab und behauptet: „Sie wusste, dass sie den Namen nicht nennen durfte, und hat ihn uns untergejubelt“ Deutschlandfunk.de/Jakob Augstein gegen Petra Reski Streit um Freitag Autorin

Der italienische Unternehmer hatte zuvor eine Unterlassungsklage gegen den MDR angestrengt, weil er seine Persönlichkeitsrechte durch die Dokumentation „Provinz der Bosse – Die Mafia in Mitteldeutschland“ verletzt gesehen hatte. Im Film war der Unternehmer nur mit einem Decknamen „Michele“ zitiert worden. Allerdings glaubte der Kläger, sich in „Michele“ wiederzuerkennen, womit er sich eigentlich selbst geoutet hat. Wirklich verwunderlich, dass ihm das Leipziger Landgericht Recht gab.

Reski berichtete in ihrem inkriminierten Artikel „Die Bosse mögen’s deutsch“ von diesem Prozess und nannte im gleichen Zusammenhang auch den vollen Namen des Klägers, weshalb der italienische Gastronom nun nicht gegen den „Freitag“, sondern gegen die Autorin vorging, auf Unterlassung klagte und wieder Recht bekam! Angesichts der nun anfallenden Kosten suchte Reski, die als freie Journalistin arbeitet, Unterstützung, zuerst bei ihrem Auftraggeber Jakob Augstein: Der versucht sich aus jeder Verantwortung zu stehlen, indem er in verschiedenen Medien den Satz wiederholt: „Eine Redaktion ist keine Rechtsschutzversicherung für mangelhafte Recherche“. Damit spricht er der Autorin auch noch die Qualifikation als Journalistin ab! Und „In eigener Sache“ formuliert er ein mysteriöses Statement:

„Der Deutsche Journalistenverband sprach von einer „Ohrfeige für alle Freien“. Aber ich stehe dazu: Wir folgen dem Prinzip Zuverlässigkeit für Zuverlässigkeit. Eine Zeitung ist ihren Autoren gegenüber zur Treue verpflichtet. Und ihren Leserinnen und Lesern gegenüber ist sie zur Wahrheit verpflichtet. Wahrheit und Mut schließen einander nicht aus – das beweist der Freitag mit engagiertem, mutigem und kritischem Journalismus jede Woche aufs Neue.“ Autoren/der Freitag/in eigener Sache

Auch der Chefredakteur des „Freitag“ Christian Füller kommentiert den Vorfall in der NDR-Sendung „Zapp“: „Die Kollegen fanden es mutig (von Frau Reski), den Namen des Klägers zu nennen“ und, so die Moderatorin, „machten bei diesem mutigen Schritt gerne mit.“ Aber als dann die Unterlassungsklage eintraf, wollte die Redaktion es nicht mehr gewesen sein: Christian Füller weiter: „Es ist einfach nicht üblich, Autoren zu unterstützen“. (1) Zapp/Der Fall Reski die Mafia und der Freitag

Ein in Italien oft zitiertes Mafia-Prinzip lautet: „Einen treffen, um 100 zu erziehen“(2). Man kann nur hoffen, dass dieses Beispiel nicht Schule macht in Deutschland! Dass es auch anders geht, lehrt das Beispiel des MDR mit seinen drei verklagten Autoren: Sie wurden juristisch, moralisch und finanziell von ihrem Sender unterstützt!

Sehenswert das Interview mit dem MDR-Autoren Ludwig Kendzia zur Schwierigkeit der Mafia-Berichterstattung und zum Fall Reski-Freitag. Recherche über Mafia schwierig
Anmerkungen: (1) Petra Reski sucht jetzt übrigens finanzielle Unterstützung im Internet: Fundraising/Pressefreiheit

(2) Das Zitat stammt ursprünglich von MaoTseTung

Arte: Aufstand gegen die Mafia

Im sizilianischen Palermo wagen Francesca Vannini und ihre Freunde den Aufstand gegen die Mafia. „Ein Volk, das Schutzgeld zahlt, hat keine Würde“, unter diesem Motto ruft die Initiative Addio Pizzo zum Widerstand auf. Aktivisten zwischen 20 und 35 helfen Menschen, die sich gegen Schutzgelderpressungen wehren. Eine Geschichte über eine andere Art, gegen die Mafia zu kämpfen. Arte TV

 

Buchbesprechung: Die Mafia in Deutschland

David Schraven, Maik Meuser u.a.: Die Mafia in Deutschland. Kronzeugin Maria G. packt aus. Econ März 2017

Das Buch mehrerer Autoren schildert die Lebensgeschichte einer jungen Kalabresin, Maria G., einer Kronzeugin, die in Deutschland (Backnang bei Stuttgart) geboren wurde, und die als Kind zwischen Baden-Württemberg und Rossano, Kalabrien lebte. Sie wurde von den Eltern gezwungen, einen Mafioso der `Ndrangheta zu heiraten und musste dann sozusagen ein Leben im Gefängnis führen, ein Gefängnis, dessen Mauern aus Einschüchterungen, Drohungen, körperlicher Gewalt und Verrat bestanden (Maria wird unzählige Male von ihren Eltern an ihren Mafia-Ehemann verraten). Schließlich wurde sie auch noch zur Komplizen-schaft gezwungen (z.B. als Drogenkurier).

Das Buch schildert über Marias Lebensgeschichte auch die Mentalität der Mafia.

Der Vater z.B. will verhindern, dass seine Kinder andere Kulturen, und damit andere Denkweisen, kennen lernen: Also zwingt er die Familie zum Umzug nach Kalabrien, wo er sicher sein kann, dass die Kinder das Umfeld der Mafia-Denkweise nicht verlassen, ein anderes Mal werden sie und ihre ältere Schwester, im Alter von 12 und 16 Jahren, in Deutschland nicht zur Schule geschickt, sondern in eine Fabrik, wo sie am Band arbeiten müssen. Maria konnte also nie Deutsch lernen.

Jetzt hat Maria G., unterstützt von den Journalisten und der Kriminalpolizei, den Sprung in die Öffentlichkeit gewagt. „Die wissen, wo ich bin“ sagt sie – ein außerordentlich mutiger Schritt, den zwei andere `Ndrangheta-Aussteigerinnen mit dem Leben bezahlt haben.

Sehr informativ sind auch die Kapitel, in denen die persönliche Lebensgeschichte Marias durch Aspekte des Mafia-Problems ergänzt werden: z.B. Die Geschichte von Mario L. und Günther Oettinger (Stuttgart), die Baumafia in NRW, Mafia am Bodensee, Stimmenkauf und Wahlbetrug in Fellbach – u.a.m.

Ein Extrakapitel beschreibt den Frust der Ermittler, ein Thema, das sich eigentlich durch das ganze Buch hindurch zieht: Immer wieder stoßen sie bei der Strafverfolgung an die Grenzen nicht vorhandener Antimafia-Gesetze in Deutschland. Bei uns könnten sich Mafiosi als Verein organisieren, mit Vereinslokal und Mitgliedsausweis – alles nicht strafbar. Die zweite höchst ärgerliche Grenze ist das Problem der sog. „Beweislastumkehr“: In Deutschland dürfen Ermittler, denen auffällt, dass ein Pizzabäcker als monatlichen Verdienst 1000 Euro angibt, nicht nach der Herkunft der Gelder fragen, mit denen dieser zahlreiche Immobilien erworben hat.

Das Buch schließt mit der Beschreibung von 52 in Deutschland ansässigen `Ndrangheta-Clans, die auch deren jeweilige Aktivitäten auflistet.

Insgesamt müssen die Autoren Zigtausend Seiten Ermittlungsakten studiert haben, sie führten auch zahlreiche Interviews in Deutschland und Italien, so dass man das Buch auch lesen sollte, wenn man sich für die Ermittlungsarbeit der Kriminalpolizei interessiert.

Zum Buch gibt es die Filmdokumentation (RTL Extra), und begleitend sind Berichte auf dem Mafia-Blog des Recherchezentrums Correctiv, im „Stern“ und z.B. in der „Stuttgarter Zeitung“ erschienen. Correctiv.org

Die Filmdoku:

Stern.de/Mafia Kronzeugin

 

Aufsehenerregende Antimafia-Kampagne in Mailand

Seit einigen Tagen hängen in den Straßen Mailands 80 große Plakatwände. Auf je 6×3 Metern sind die Namen der zehn wichtigsten Mafiabosse von Cosa Nostra und `Ndrangheta genannt, die alle im Raum Mailand leben.

Die Kampagne ist Werk des Journalisten und Massenmedienforschers Klaus Davi und entstand in Zusammenarbeit mit der Omnicom Media Group Mailand. Die Plakate zeigen die Spitze des Mailänder Doms, an Stelle der Madonnina krönt sie eine Pistole und eine Blume. Der Text: „Die `Ndrangheta ruft – Mailand antwortet: Hier die Namen der 10 größten Mafiabosse, die in unserer Stadt leben, die mit ihnen Geschäfte macht.“ Es folgen die Namen der Bosse und ganz unten der Titel einer Serie von Reportagen über die `Ndrangheta von Davi: „Gli intoccabili“ – Die Unberührbaren. Dies ist laut Homepage „die erste Docureality über die organisierte Kriminalität“, die auch den unglaublichen Einsatz von Justiz und Polizei würdigen soll. Dieses Format ist seit Mai 2016 wöchentlich auf LaC Canale 19 oder auf Youtube anzusehen.

Flankiert wird die Plakat-Kampagne von Video-Reportagen über die Bosse; die erste Folge für die Lombardei ist dem `Nrangheta-Boss Giuseppe Calabrò, „das Phantom“ aus San Luca gewidmet. Ilda Boccassini, bekannte Mailänder Antimafia-Staatsanwältin, hat 2016 die Ermittlungen gegen ihn aufgenommen. Er soll Besitzer der Apotheke „Caiazzo“ im Zentrum sein, die er mit den aus Drogen- und Waffenhandel gewaschenen Geldern seines Onkels erworben habe. (Übrigens: der Kaufpreis, 220 000 Euro, wurde bar überreicht).

Die Mailänder Staatsanwaltschaft bemerkt schon seit langem, dass Söhne und Töchter von bekannten Mafiabossen samt und sonders Pharmazie studieren und dass in zahlreichen Mailänder Apotheken Mitarbeiter aus Kalabrien die Kunden bedienen. Interessant erscheint diese Tatsache, weil die Staatsanwaltschaften im Süden schon seit vielen Jahren die Unterwanderung des Gesundheitssektors durch die Mafien untersuchen.

Auch die Nationale Antimafiakommission konzentriert sich seit längerem auf Ärzte, Krankenhäuser, Privatkliniken, Apotheken und das Gesundheitssystem insgesamt.

Aber weshalb sind Apotheken für die Mafien interessant? ,„Apotheke bedeutet Geld, Arbeitsplätze und Ansehen in der Gesellschaft“ erläutert der Mailänder Staatsanwalt Paolo Storari. Von Apotheken aus gelange man aber auch leicht in andere, für die Mafia interessante Bereiche, z.B. in die öffentliche Verwaltung, wie die Festnahme des Direktors der ASL von Pavia (lokales Gesundheitszentrum und Notfallambulanz des italienischen Staates) im letzten Jahr belegt. Der `Ndranghetaboss Francesco Pelle konnte sich anschließend mit falschen Papieren in der Klinik „Maugeri von Pavia operieren lassen. Dies zeigt, dass die bestehenden Abhängigkeiten von entscheidendem Interesse vor allem für untergetauchte Bosse sein können. Und über die persönlichen Beziehungen der Pharmazeuten und Mediziner lasse sich der Einfluss der Mafia in den Universitätsbereich ausdehnen, vor allem aber öffne sich der Weg in die Politik. Außerdem hätten die Mafien das Gesundheitswesen als Sektor entdeckt, der sich wunderbar für Geldwäsche eigne.
Arzneimittel – ihre Nebenwirkungen: Der Tod!

Italien/Kalabrien: Ndrangheta-Bosse schreiben Dankbriefe an einen Richter

„Nehmen Sie uns unsere Kinder weg, vielleicht kann man sie so davor bewahren, ebenfalls Mafiosi zu werden“

Seit einigen Jahren gibt es in Italien ein Gesetz, das in den Fällen, „in denen ein konkreter schädlicher Einfluss festgestellt wird, der auf eine Erziehung zur Mafiakultur zurückzuführen ist“, dem Gericht für Minderjährige ermöglicht, das Kind den Eltern zu entziehen.

Zunächst kam es zu heftigen Reaktionen, vor allem von Seiten inhaftierter Bosse: „Unsere Kinder werden nicht angerührt!“ Oder: „Zuerst konfisziert ihr Mafia-Besitz, jetzt unsere Kinder!“

Doch eine solche drastische Maßnahme wird nie leichtfertig angeordnet, sagt der Leitende Oberstaatsanwalt in Reggio di Calabria Federico Cafiero De Raho. „Wir haben da Jugendliche vor uns, die sich schon wie Bosse verhalten. Ihre Eltern sitzen im Gefängnis oder sind untergetaucht. Sollen wir zulassen, dass ihre Eltern sie weiter für eine Verbrecher-Karriere vorbereiten? Die Blutsverwandtschaft spielt in der `Ndrangheta eine Rolle wie in keiner anderen Mafia-Organisation. Und wenn man sich die Abhörprotokolle anhört, die in `Ndrangheta-Familien aufgenommen wurden, dann scheint in der Tat das Schicksal schon kleiner Kinder vorgezeichnet zu sein.“

Die Bestimmung zu einem Leben als Kriminelle beginnt für männliche Nachkommen eines `Ndrangheta-Bosses schon gleich nach der Geburt. Die Regeln bestimmen, dass die Söhne eines Bosses schon bei der Taufe durch ein besonderes Ritual als neues Mitglied in die `Ndrangheta aufgenommen werden. Aber auch in anderen `Ndrangheta- Familien werden schon Kinder auf ihre Zukunft als Kriminelle vorbereitet. Aus einem Abhörprotokoll geht hervor, dass ein Vater seinem siebenjährigen Sohn eine Waffe in die Hand gedrückt hat: „Schieß! Schieß endlich“ . Im Prozess „Faida“ gegen die Attentäter von Duisburg (2007) waren auch mehrere Minderjährige, die wegen Zugehörigkeit zur Mafia und wegen Beihilfe angeklagt waren. In den letzten 20 Jahren hat das Gericht für Minderjährige in Reggio über hundert Prozesse wegen Mafia-Vergehen gegen noch nicht volljährige Mafiosi durchgeführt, darunter etwa 50 wegen Mordes. Der Gerichtspräsident Roberto Di Bella meint: „Wir haben da eine Generation vor uns, die wir hätten retten können, die wir aber im Stich gelassen haben“.

Das Gericht musste diverse Kritiken einstecken, auch von einzelnen Vertretern der katholischen Kirche, doch der bei Libera* organisierte Priester Don Pino De Masi zum Beispiel ist überzeugt, dass so Kindern und Jugendlichen aus Mafia-Familien eine Alternative angeboten werden kann. In seiner Gemeinde kam es schon mehrfach vor, dass ihm ein Junge zuflüsterte, dass er sich für seinen Familiennamen schäme. Don Pino ist überzeugt: „Es ist unsere Aufgabe ihnen zu helfen, den nächsten Schritt zu tun.“

Natürlich handelt es sich um eine extreme Maßnahme, die nur getroffen wird, wenn die Ermittlungen der Justiz konkrete Hinweise ergeben, dass Jugendliche sich schon auf dem Weg in die Kriminalität befinden: z.B. als Bewacher von Waffen oder Drogen, oder wenn kleine Jungs von Älteren zum Abfeuern einer Schusswaffe gezwungen werden. Auch für Mädchen gibt es Regeln, z.B. unbedingter Gehorsam, Schweigen, Zwangsheiraten mit anderen Mafia-Angehörigen, die die Position eines Clans stärken sollen. Die meisten Kinder „atmen“ von Geburt an „Mafia-Luft“, eine Mentalität, die die Beziehung zum Staat und zur Zivilgesellschaft zerstört.

Manchmal genügt die Wahrnehmung, dass der italienische Staat Präsenz zeigt, um die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, nur so lässt sich erklären, dass sich im letzten Jahr eine Gruppe von etwa 10 Müttern mit ihren Kindern an den Gerichtspräsidenten Di Bella gewandt und um Hilfe gebeten hat. Sie wollten mit ihren Kindern nach Nord-Italien gebracht werden, möglichst weit weg von ihren Ehemännern. Di Bella: „Das ist ein völlig neues Phänomen. Diese Frauen haben furchtbare Erlebnisse hinter sich, unsere Maßnahmen regen also zu neuartigen Reaktionen an.“ Di Bella betont des weiteren, dass es sich noch um ein Experiment handele, entscheidend ist für ihn, Kindern und Jugendlichen das Angebot einer Alternative zum Leben als Kriminelle zu bieten.

Kritik am Kindesentzug kam auch von verschiedenen Experten, die einerseits einen derartig massiven Eingriff in die Familie ablehnen, andererseits werden die Maßnahmen von anderen Fachleuten auch für unzureichend gehalten: um die Mafia-Kultur zu bekämpfen, müsste man sich weiter reichende Maßnahmen überlegen, die z.B. die gesamte Familie oder ein ganzes Gebiet in die Umerziehung einschlössen. Inzwischen kann Di Bella aber nun vor allem positive Reaktionen vermelden:

Vor einigen Wochen erhielt der Gerichtspräsident den Brief eines `Ndrangheta-Bosses, der seit 10 Jahren in Isolationshaft einsitzt: „Ich schreibe Ihnen als Vater, ein Vater, der sich wegen der Familiensituation größte Sorgen um seinen Sohn macht. Ich bin einverstanden mit ihren Maßnahmen, nur wenn Sie mein Kind diesem Umfeld entziehen, wird es eine bessere Zukunft haben. Wenn ich die gleiche Möglichkeit gehabt hätte, vielleicht wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin!“ Das ist aber nicht der einzige Brief! Auch andere Bosse haben sich mit Briefen bedankt. Dann gibt es die Rückmeldung einer Mutter, die seit vier Jahren mit ihrem kleinen Sohn an einem geheimen Ort außerhalb Kalabriens lebt oder den einer Vierzehnjährigen, beide Eltern wegen Mafia-Verbrechen im Gefängnis, die schreibt: „Ich gehe nie wieder nach Kalabrien zurück!“. Wiederholt werden Mütter im Büro des Gerichtspräsidenten vorstellig, die ihre Kinder der Mafia-Kultur entziehen wollen. Sie bitten um Unterstützung, weil sie ihre Familie und das Mafia-Umfeld verlassen wollen. Auch betroffene Jugendliche melden sich zu Wort. Ein anderes Mädchen (ebenfalls beide Eltern wegen Mafia-Vergehen in Haft), das sich zuerst heftig wehrte, als es abgeholt und in den Norden gebracht werden sollte, bedankt sich nun folgendermaßen: „Sehr verehrter Herr Präsident, wo ich jetzt bin, habe ich ein neues Leben begonnen, ich bin sozusagen neu geboren worden. Die Familie, der Ihr mich anvertraut habt, mag ich sehr. Sie mögen mich ebenfalls und geben mir ihre ganze Liebe. Ich gehe gerne zur Schule. Dort geht es mir gut, und ich fühle mich wohl mit meinen neuen Freundinnen. Nach Kalabrien gehe ich nie wieder. Am Anfang war es hart, aber jetzt geht es mir gut, danke!“

Nachricht vom 16.2.17: Das Gericht für Minderjährige in Neapel entzieht der Familie eines Camorra-Bosses das Sorgerecht für die Kinder. Zwei Kinder waren beim Erscheinen der Beamten damit beschäftigt, Kokain-Päckchen zu packen. Napoli Repubblica

  • Die `Ndrangheta ist die aus Kalabrien stammende Mafia, die seit Jahren als wesentlich mächtiger eingestuft wird als die in Sizilien beheimatete Cosa Nostra. Die `Ndrangheta beherrscht weltweit den Kokain-Handel und ist auch in Nord-Italien und z.B. in Deutschland fest verwurzelt.

*   Libera ist die größte Antimafia-Organisation in Italien, die inzwischen Niederlassungen in anderen Staaten der EU hat und mit dem Berliner Verein „Mafia? Nein danke!“ zusammen-arbeitet.                                 

Gericht für Minderjährige – Staatsanwaltschaft für Minderjährige. Mediacalabria.it