Urteile im Maxiprozess gegen die `Ndrangheta (Norditalien)

In den beiden Teilen des Maxiprozesses, der Anfang 2016 begonnen hatte, wurden die Urteile gesprochen: Im sog. „kurzen Prozess“ von Bologna waren es die definitiven Urteile in 3. Instanz, im sog. „ordentlichen Prozess“ von Reggio Emilia die in 1. Instanz. Es ist der erste Maxiprozess in Norditalien mit weit über 200 Angeklagten. Für die Verhandlungen mit so vielen Angeklagten und deren Verteidiger musste nach dem Vorbild der Aula Bunker in Palermo ein neues Hochsicherheitsgebäude errichtet werden. (1)

Im sog. „kurzen Prozess“ von Bologna sind von den anfangs 71 Angeklagten die Strafen für 40 Personen in 3. Instanz bestätigt worden, 11 wurden in 1. und 2. Instanz freigesprochen, für andere wurde das Strafmaß geändert, für wieder andere muss der Prozess in zweiter Instanz wiederholt werden…. Antimafiaduemila

Im sog. „ordentlichen Prozess“ von Reggio Emilia – es handelt sich dabei um den Prozess in 1. Instanz, auf den zwei weitere folgen werden – standen dort insgesamt 148 Angeklagte vor dem Richter, von denen 119 verurteilt und 29 freigesprochen wurden. Unter den Verurteilten sind neben Mitgliedern der `ndrangheta Unternehmer, Politiker, Polizisten, Journalisten, Finanzberater und der ehemalige Stürmer von Juventus Turin Iaquinta, der nach der Urteilsverkündung seiner Wut gegen die Richter freien Lauf ließ: Er sei unschuldig, er leide wie ein Hund, in seiner Familie wisse keiner, was die `ndrangheta überhaupt sein solle. (2).

Während des Prozesses haben drei der Mafia-Mitglieder beschlossen, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Mit ihren Aussagen haben sie im Prozessverlauf wichtige Ergänzungen für die Anklage geliefert. Einer von ihnen, Antonio Valerio, rief nach der Urteilsverkündung in den Saal: „In Reggio Emilia steht Ihr massiv unter Druck! Das ist noch lange nicht das Ende!“. In gleicher Weise, nur mit anderen Worten, äußert sich der leitende Staatsanwalt Giuseppe Amato..
Bologna Repubblica
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Bei der Urteilsverkündung hoben die Richter außerdem hervor, dass die falschen Nachrichten über den Verlauf des Prozesses nicht, wie die Verteidiger wiederholt behaupteten, von Journalisten verbreitet worden seien, sondern von mehreren Zeugen, die nach Meinung des Gerichts eingeschüchtert und bedroht worden seien, denn im Gericht machten sie falsche Aussagen oder verweigerten überhaupt jede Aussage. Dafür verhängten die Richter ebenfalls Strafen.

Welche Bedeutung hat dieser Prozess für den Kampf gegen die Mafia?

Die Urteile bestätigen in vollem Umfang die Ermittlungsergebnisse: In der Region Emilia Romagna, aber vor allem im Gebiet von Reggio Emilia, Modena und Piacenza, operiert ein autonomer Clan der `ndrangheta, der Clan der Grande Aracri, der aus Cutro in Kalabrien stammt. Seit 30 Jahren wird er von Leuten aus der Gesellschaft unterstützt, so dass er inzwischen eine wichtige Rolle in Politik, bei Unternehmern und in der Wirtschaft allgemein spielt. Das Urteil bestätigt außerdem offiziell die Existenz der `ndrangheta als Mafia-Organisation.

Der Prozess wurde einem einzelnen Clan einer einzelnen Mafia-Organisation gemacht. Man muss sich aber bewusst sein, dass in der Region Emilia-Romagna alle italienischen und verschiedene ausländische Mafien tätig sind. Wenn man die Zahl der Angeklagten in beiden Maxiprozessteilen – das waren weit über 200 – auf die Zahl der in der Region aktiven Mafia-Organisationen überträgt, wird einem sofort klar, dass dies nicht etwa das Ende, sondern nur ein kleiner Anfang im Kampf gegen die Mafien sein kann.

(1) Ein „kurzer Prozess“ ist nach einer Gesetzesreform von 1999 möglich: Er sieht vor, dass das Gericht für die Urteilsfindung auf das eigentliche zeitaufwendige Verfahren verzichtet und das Urteil auf der Basis der Ermittlungsergebnisse vor Prozessbeginn formuliert. Damit einher geht ein Straferlass von einem Drittel der Strafe, das Urteil „lebenslänglich“ ist somit gar nicht mehr möglich (Höchststrafe: 30 Jahre)

(2) Laquinta ist wegen Vergehen „im Zusammenhang mit Waffen“ zu 2 Jahren Haft verurteilt worden, wobei erschwerend hinzukam, dass er die Geschäfte der Mafia erleichtert habe. Sein Vater muss wegen Mitgliedschaft in der `ndrangheta 19 Jahre hinter Gitter.

In den Händen der Mafia

Espresso Repubblica

Traumjobs – Monolog von John von Düffel

Am Theater in Kempten/Allgäu hatte der Monolog Traumjobs Premiere. Sebastian Strehler spielte überzeugend einen jungen Mafioso.

Das Stück, das 2009 in Stendal uraufgeführt wurde, ist nun den Kemptner Verhältnissen angepasst worden: In ihrer Einführung liest die Dramaturgin Schmidbauer Passagen aus dem Buch von Andreas Ulrich „Engelsgesicht“ vor, das die Geschichte des auf dem Kemptener Bahnhof festgenommenen Killers der `Ndrangheta Giorgio Basile erzählt. Der Autor John von Düffel hat das Stück für Jugendliche geschrieben, die vor der Berufswahl stehen und sich fragen, „Was will ich, und was kann ich?“

Auf der Bühne ist eine ältere Vespa zu sehen, die für die Hauptfigur eine zentrale Rolle spielt. An der Wand hängen ein Pin-Up-Girl und ein altersgraues Gemälde der Madonna mit Kind. Am linken Bühnenrand fällt eine Reliefkarte Kalabriens ins Auge, rechts von der erhöhten Bühne ist eine kleine Küchenzeile mit Caffettiera, Kaffeedose und Geschirr aufgebaut. Dann eilt der Mafioso Carlo Destra auf die Bühne und beginnt seine Geschichte.

Die Inszenierung von Wolfgang Seidenberg setzt auf eine gelungene Mischung aus ruhigeren Phasen, in denen die Erzählung des Protagonisten im Mittelpunkt steht, und aus lebendiger Bewegung durch Aktivitäten des Hauptdarstellers: Z.B. bereitet sich der Mechatroniker Carlo einen Kaffee zu, bevor er sich ernsthaft an der Vespa zu schaffen macht, wobei er nach und nach aus ihrem Innern immer größere Kokain-Päckchen zu Tage fördert. Er spricht einzelne Zuschauer direkt an, die Eingangstür und die Toilette werden in die Handlung einbezogen, so dass die ganze Theaterwerkstatt und das Publikum zu einem Teil der Handlung werden. Musik und zahlreiche witzige Momente bewirken, dass man sich während des langen Monologs zu einem doch sehr ernsten Thema keine Minute langweilt.

Carlo Destras Geschichte ist schnell erzählt: Als er zwölf Jahre alt ist, beschließen seine Eltern, nach Kalabrien zurückzugehen – der Vater ist als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen, die Mutter ist Deutsche. Nach und nach entdeckt der heranwachsende Junge, dass vieles nicht so ist, wie er gedacht hat: Kalabrien verliert für ihn den Nimbus des ewigen Ferienparadieses, der gute „Onkel“ Umberto ist nicht der großzügige Verwandte, als der er ihm vorgestellt wurde, sondern der örtliche Mafiaboss, dem sein Vater sklavisch ergeben ist. Schon mit 13 sieht er zum ersten Mal in seinem Leben eine Leiche, das erste Geschenk ist eine Vespa und kurz darauf händigt man ihm eine Schusswaffe aus. Sein Weg führt Carlo also direkt in die Fänge der Mafia. Es wird deutlich, wie die Mafia junge Leute für ihre Geschäfte ködert: Komplimente, Versprechungen, leicht zu verdienendes Geld, Wichtigkeit, schicke Kleider – und angeblich gute Gefühle: „ Hättet ihr etwas gegen ein bisschen Respekt und das Gefühl, einmal stärker zu sein als der Staat?“

Aber Carlo durchschaut nach und nach die falschen Versprechen der Mafia. Als er erfährt, dass sein Vater einen Freund umgebracht hat, bewundert er nicht dessen Coolness, sondern er ist geschockt: Auch der Vater ist nicht der, für den er ihn gehalten hat. Nachdem er zuerst verschiedene Botendienste geleistet hat, wird er dann von der `Ndrangheta in den Osten Deutschlands geschickt. Dort soll er in seinem schicken Armani-Anzug und mit seinen guten Umgangsformen neue Mafiosi unter den frustrierten Jugendlichen rekrutieren – leicht verdientes Geld. Und trotzdem – in ihm wird der Wunsch, sich aus dem „Traumjob“ zu befreien, immer stärker. Aber wie er das schafft, das soll hier nicht verraten werden.

Die Aufführung lebt vor allem vom Talent und der Vielseitigkeit des Hauptdarstellers. Wer die Filme „Der Pate“ gesehen hat, erkennt in einem nachgespielten Dialog mit dem Boss die Stimme des alternden Marlon Brando wieder – eine gelungene Parodie! Das Stück soll in verschiedenen Schulen aufgeführt werden. Man kann sich gut vorstellen, dass ältere Schüler sich nicht nur amüsieren, sondern auch davon angeregt werden, Fragen zu stellen, an sich selbst und an ihre Lehrer.
Traumjobs

Petra Reski: Mafia.

„Die Mafia will nicht auffallen, und die Deutschen wollen die Mafia nicht sehen.
Eine Win-Win-Situation.“ S. 67

Petra Reskis neuestes Sachbuch bietet Basis-Wissen zum Thema Mafia in Italien und Mafia in Deutschland. Es eignet sich für eine erste Orientierung über das Thema und für die Verwendung im Unterricht auf der Kursstufe. Interessierte Schüler und andere Personen könnten dadurch motiviert werden, sich über einzelne Aspekte der Thematik genauer zu informieren.

Die Darstellung ist lebendig, weil die Autorin immer wieder aus persönlicher Perspektive berichtet. Was mir besonders gut gefällt, ist, dass ihre persönlichen Anmerkungen erkennen lassen, dass sie von einem Erkenntnisinteresse geleitet sind und dass derartige Bemerkungen nicht der Selbstdarstellung dienen. (Hat sie auch nicht nötig.) Die verwendete Sprache ist sachlich und sehr präzise.

Die ersten 42 Seiten sind der Mafia in Italien gewidmet: Der amoralische Familiensinn, die Entstehung der Mafien in Süditalien, die Schicksalsjahre 1992-93 – dies sind die behandelten Themen. Eingefügt ist eine Liste wichtiger Personen und eine Tabelle zur „Mafia in Zahlen“. Prädikat: hervorragend!

„Die Mafia in Deutschland“ beschreibt nicht nur die Problematik selber (bis zur Razzia „Styx“ vom Januar 2018, als in einer italienisch-deutschen Polizeioperation in Deutschland 11 Mafiosi festgenommen wurden), sondern widmet sich auch der Frage, weshalb es „der Mafia in Deutschland so leicht gemacht wird“. Hier stehen im Zentrum die deutsche Gesetzgebung und das Presserecht, das Journalisten mundtot macht.

Es schließt sich eine kurze Abhandlung über die „Mafia-Propaganda“ an, die nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland und anderen europäischen Staaten ihre Promoter hat. Das vorletzte Kapitel entzaubert 10 Mafia-Mythen, das letzte widmet sich der „Mafia heute“. Darin referiert Reski die höchst interessante Analyse des Generalstaatsanwaltes Scarpinato aus Palermo von 2016, der drei Arten von Mafien unterscheidet: die traditionelle Mafia, die marktwirschaftliche Mafia und die Mafia-Elite. (Wer mehr darüber wissen will, lese das Buch!)

Gute Lektüretipps und zwei Link-Listen runden die 100 Seiten ab.

In einem Land wie dem unseren, in dem das Wissen über die Mafia gegen Null tendiert und keiner ein Interesse zu haben scheint, dies zu ändern, ist dieses Büchlein wirklich ein Gewinn!…Petra Reski: Mafia. Hundert Seiten. Reclam 2018. 10 €
Leseprobe

Italien: Staatsgeheimnisse und die Pflicht der Journalisten, die Öffentlichkeit zu informieren

Salvo Palazzolo, bekannter Journalist der Repubblica, ruft seine Kollegen auf, eine Internet-Plattform zu gründen, die die Staatsgeheimnisse ins Visier nehmen soll.

Die Vorgeschichte:

Am 13. September hat die Staatsanwaltschaft Catania die Durchsuchung der Wohnung des Journalisten angeordnet und ein Smartphone, ein Tablet und drei Speichermedien beschlagnahmt. Die Begründung: Palazzolo habe geheime Informationen weitergegeben, als er im März 2018 auf der Homepage von Repubblica die Nachricht veröffentlichte, dass die Ermittlungen gegen die Polizeibeamten, die für die größte Prozess-Manipulation in der Justiz-Geschichte Italiens verantwortlich sein sollen, abgeschlossen seien.

Dabei geht es um die Konstruktion eines falschen Kronzeugen, Vincenzo Scarantino, der von drei Polizeibeamten gezwungen worden ist (1), sich selbst und andere unbeteiligte Personen zu beschuldigen, das Attentat auf den Antimafiarichter Paolo Borsellino im Juli 1992 organisiert und durchgeführt zu haben. Mit teils richtigen, teils lückenhaften oder falschen Aussagen hat Scarantino, der in der Hierarchie von Cosa Nostra nur eine kleine Nebenrolle spielt, die Ermittlungen in eine völlig falsche Richtung gelenkt, so dass er selber und mehrere Unschuldige ins Gefängnis wanderten. Inzwischen, nach einem Revisionsprozess, sind diese wieder frei.

Eine wichtige Rolle spielt die Tatsache, dass diesen Sommer die Urteilsbegründungen in zwei spektakulären Prozessen veröffentlicht worden sind: Das Urteil im Prozess „Borsellino Nummer Vier“, das bestätigt, dass die Ermittlungen „von außerhalb der Mafia“ massiv manipuliert waren, und das Urteil des Prozesses zur „Trattativa“, der sich mit den damaligen Verhandlungen zwischen Bossen der Cosa Nostra und Vertretern des italienischen Staates beschäftigte. Deshalb ist die große Nervosität in Politik und Staat und in den ihnen nahe stehenden Printmedien verständlich.

Kritiker gehen davon aus, dass mit dem Vorgehen der Justiz gegen Palazzolo die Autoren der Manipulation gedeckt und Journalisten zum Schweigen gebracht werden sollen. Claudio Fava z.B., Präsident der regionalen Antimafia-Kommission Sizilien, fragt sich bei der Anhörung Palazzolos am 18. September, weshalb bei einem Journalisten, der nur seine Arbeit getan und die Öffentlichkeit informiert hat – und seiner Meinung nach keinen Geheimnisverrat begangen hat -, eine Hausdurchsuchung vorgenommen wird, bei dem ihm Arbeitsmaterialien und Archiv beschlagnahmt werden, während die drei Polizeibeamten, die verdeckt für den Geheimdienst gearbeitet haben sollen, bisher von einer solchen Maßnahme verschont geblieben sind. Palazzolo hat bei dieser Anhörung der Kommission eine Liste mit bisher unbeantworteten Fragen zu den Attentaten und zu den „Geheimnissen von Palermo“ vorgelegt, die von einer Gruppe sizilianischer Journalisten ausgearbeitet worden ist.

Am 20. September nun fand in Caltanissetta die Vorverhandlung des Prozesses gegen die Polizeibeamten statt. Vor dem Gerichtsgebäude hatten sich u.a Vertreter der Journalistengewerkschaft und andere Sympathisanten des Journalisten zu einem sit-in versammelt, um gegen die Gängelung der Presse zu demonstrieren.

Palazzolo selber hat sich folgendermaßen zu Wort gemeldet: „Die sizilianischen Journalisten gehen vor Staatsgeheimnissen nicht in die Knie!“.

Und er ruft die an der Wahrheit interessierten italienischen Journalisten auf, mit ihm eine Internet-Plattform zu gründen, die endlich die zahlreichen Staatsgeheimnisse ins Visier nehmen und zur Aufklärung der vielen Rätsel beitragen soll. Und er fügt abschließend hinzu: „Auf diese Weise wird es sehr schwer werden, gegen all diese Leute vorzugehen, die die Wahrheit wissen wollen über die Attentate, in die der Staat verwickelt ist!“….Antimafiaduemila.com

  • Feststellung im Urteil zum Prozess „Borsellino Nummer Vier“

Di Pasquale Narciso

Grauzone – unsichtbare Macht der Korruption

Italien: Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung bilden sich fort: „Die Grauzone. Phänomenologie der unsichtbaren Macht der Korruption“

Die Fünf-Sterne-Bewegung, die zusammen mit der Lega die aktuelle italienische Regierung bildet, scheint mit dem Kampf gegen Korruption und Mafia Ernst machen zu wollen: Vor kurzem waren Abgeordnete zu einer Tagung im Parlament geladen, die sich mit dem Konzept der „Grauzone“ beschäftigte – ein Begriff, der aktuell in der Antimafia und bei der Bekämpfung der Korruption eine entscheidende Rolle spielt.

Als Referenten waren Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung auf dem Podium (1), als Gast war der junge Schriftsteller Luciano Armeli Iapichino aus Messina eingeladen, der sich bestens in der Materie auskennt. (2)

Die Grauzone – was ist das?

Der Senator Mario Giarrusso, Mitglied des Justizausschusses, vergleicht die Grauzone mit einem Meer, das die besten Lebensbedingungen für Haie bietet. Die Haie stehen für alle Arten von Organisierter Kriminalität (OK), während dieses Meer besiedelt ist von Subjekten aller Art, die keine Mitglieder einer Mafia-Organisation sind, aber die den Haien die Umsetzung ihrer kriminellen Projekte ermöglichen. Die Banca d’Italia nennt als größten Wirtschaftszweig in Italien die Geldwäsche und schätzt sie auf jährlich 110 Milliarden Euro. Es ist klar, so Giarrusso, dass z.B. ein Mafioso aus Palermo nicht in der Lage ist, solche Geldströme in die richtigen Kanäle zu lenken, mit ihnen gewinnbringend zu arbeiten – dafür braucht es Experten, die man hier in der Grauzone des Bankensektors suchen muss.

Ein anderes Beispiel: der angebliche Selbstmord des sizilianischen Urologen Attilio Manca: Er galt damals – 2003 – als absoluter Experte bei Prostata-Operationen. Als der damalige Boss der Bosse, Bernardo Provenzano, eine solche Operation benötigte, reiste er mit einem echten Pass, ausgestellt von einer staatlichen Behörde auf den Namen eines Bäckers aus Villabate (Palermo), zweimal für Untersuchungen und ein drittes Mal für die Operation in eine renommierte Klinik in Marseille, das Ganze auf Kosten der italienischen staatlichen Krankenversicherung. Als Chirurg wurde der Top-Experte aus Sizilien gewonnen. Wahrscheinlich hat Attilio Manca bemerkt, dass der Patient nicht der war, für den er sich ausgab, und so musste er sterben, um den ganzen Apparat, der diese Aktion möglich gemacht hat, zu decken. (3)

Ein weiteres Beispiel aus dem Prozess „Aemilia“: Ein Journalist aus Reggio Emilia hat jahrelang Artikel über den Hauptangeklagten Nicolino Grande Aracrì veröffentlicht, in denen er ihn als „bekannten und erfolgreichen Unternehmer aus Kalabrien“ portraitierte. Für diese Artikel wurde er selbstverständlich bezahlt – das Urteil: 9 Jahre Gefängnis.

Als weitere Beispiele verweist der Senator auf verschiedene Prozesse aus jüngster Zeit: unter anderen nennt er vor allem den Prozess zur trattativa, in dem zum ersten Mal neben Mafiabossen Vertreter der italienischen Institutionen auf der Anklagebank saßen, das heißt ein Prozess, in dem Mafiabosse gemeinsam mit ihren Helfershelfern im Staat, also mit Vertretern der Grauzone, angeklagt waren. Des weiteren nennt er den letzten Prozess zum Attentat auf Paolo Borsellino –, es ist der vierte Prozess, die ersten waren in einem unglaublichen Ausmaß manipuliert. Wer schafft es, fragt sich Giarrusso, einen Prozess so zu manipulieren, dass Unschuldige ins Gefängnis wandern? Die Mafia kann die Manipulation eines Prozesses verlangen, erpressen, aber bewerkstelligen müssen sie Leute aus der Grauzone, die unverdächtig erscheinen und im System voll integriert sind.

Der Schriftsteller Luciano Armeli Iapichino erinnert daran, dass das Phänomen Grauzone nichts Neues ist: Schon die Politiker des Königreichs Italien Franchetti und Sonnino haben in ihrer Studie über Sizilien von 1876 nicht nur die Existenz der Mafia konstatiert, sondern auch unterstrichen, dass die Macht der Mafia auf der Unterstützung durch verschiedene Bereiche der Gesellschaft beruht. Heute, so Iapichino, seien die Unterstützer und Helfershelfer der Mafia vor allem unter den Geschäftsleuten und Unternehmern zu finden. Aber, so korrigiert er sich, für die Dienste der Mafia lassen sich praktisch alle Kategorien der Gesellschaft einspannen: Ingenieure, Wissenschaftler, Ärzte, Architekten, Anwälte und Notare, Journalisten, Finanzexperten, Banker, Politiker, Beamte der Behörden, Polizisten, Staatsanwälte, Richter und – Vertreter der Antimafia. Das heißt, alles in einer Gesellschaft vorhandene Know-how können sich die Mafien sozusagen über ihre „Verbindungsleute in der Grauzone“ beschaffen, und die Methode, der sie sich heute bedienen, ist bevorzugt die Korruption. Und wenn das nicht funktioniert, bedient man sich der klassischen Mafia-Methoden: Manipulation, Einschüchterung, Drohungen, Erpressung, und wenn gar nichts hilft, Attentate und Morde.

Antonella Papiro, Mitglied der Kommission Handel und Tourismus, die die Moderation übernommen hat, schließt die Tagung mit einem Zitat von Giovanni Falcone, der sagte, die Mafia könne besiegt werden, aber nur dann, wenn sich die besten Leute in den staatlichen Institutionen dafür einsetzten. Dies sei die Absicht der Fünf-Sterne-Bewegung: Die Glaubwürdigkeit der Institutionen wiederherzustellen, indem man ernsthaft den Kampf gegen Mafien und Korruption führe.

Die Tagung ist übrigens im Internet nur mit den beiden Berichten von Radio Radicale und Antimafiaduemila dokumentiert, anderen Medien war die Tagung keiner Erwähnung wert. Antimafiaduemila.com
Radioradicale.it

  1. a. der Senator Mario Giarrusso und Piera Aiello, Zeugin der Justiz seit Ende der 80er Jahre, jetzt Parlamentarierin der Fünf-Sterne-Bewegung
  2. Er hat ein Buch über die Ermordung des Urologen Attilio Manca veröffentlicht (s. Absatz 4)
  3. Der Prozess in Rom ist übrigens vor kurzem eingestellt worden, mit dem Ergebnis: Selbstmord durch eine Überdosis Heroin

    Marilena Nardi
    www.w-t-w.org/en/cartoon/marilena-nardi
    www.marilenanardi.it

Die „Königin“ der Häftlinge muss in Untersuchungshaft

Die „Königin“ der Häftlinge muss in Untersuchungshaft

Beispiel „Grauzone“: Die „Königin“ der Häftlinge muss in Untersuchungshaft

Im Rahmen einer Polizei-Operation gegen zwei `ndrangheta-Clans aus Rosarno (Kalabrien) wegen Zugehörigkeit zu einer Mafia-Organisation, wegen Drogenhandels, versuchten Mordes, Waffenbesitz und anderer Vergehen erhielt auch die Kriminologin Angela T. einen Brief von der Staatsanwaltschaft Reggio Calabria und wanderte in Untersuchungshaft.

Die Kriminologin, die als Vertreterin der Antimafia-Institutionen in verschiedenen Fernsehsendungen aufgetreten ist und dort die Haftbedingungen in verschiedenen Gefängnissen schilderte, soll in Wahrheit laut Staatsanwaltschaft im Dienste der `Ndrangheta stehen. Sie habe ein ganzes System von Leuten aufgebaut, die für die Haftbedingungen zuständig sind, und soll Angehörigen von `ndrangheta-Clans unerlaubte Vorteile verschafft haben: Darunter z.B. die Verlegung in eine andere Haftanstalt, die dem jeweiligen Häftling genehmer war, Beschleunigung von gefängnisinternen Vorgängen, z.B. wenn der Antrag gestellt war, die Haft durch das Tragen einer elektronischen Fußfessel zu ersetzen, Ausstellung von medizinischen Gutachten, die in Folge zu Hafterleichterungen führen, Weitergabe von internen Informationen. „Bezahlt“ wurden die erbrachten Dienstleistungen mit Geld oder mit Sex von Escort-Damen, die von den `ndrangheta-Clans zur Verfügung gestellt werden.

Aufgeflogen ist dieses System durch die Anzeige eines medizinischen Gutachters, der von der Staatsanwaltschaft Reggio Calabria beauftragt worden war, den Gesundheitszustand eines Mafiabosses zu begutachten, der im Gefängnis Opera (Mailand) einsitzt. An der Visite habe auch Angela T. als externe Beraterin teilgenommen. Beim gemeinsamen Essen nach dem Termin habe die Kriminologin, so der Gutachter, wiederholt versucht, ihn zu motivieren ein Gutachten abzufassen, das den Interessen des Mafia-Bosses entgegen kam. „Wenn ich es schaffe, ihn freizubekommen, dann werde ich zur Königin der Häftlinge.“ Nach dem Essen sei sie dann noch deutlicher geworden, und habe ihm versichert, dass kein Gutachter, der für sie gearbeitet habe, es bisher bereut habe. Sie nannte dann tatsächlich die Namen verschiedener Ärzte und Gutachter, bei denen er sich erkundigen könne, wie gut sie für solche „Gefälligkeitem“ bezahle. Falls er wolle, könne sie ihm auch Escort-Damen beschaffen, die ihm dann zu Diensten stünden.

Der Gutachter hat sich allerdings umgehend an die Staatsanwaltschaft gewandt. Deren Ermittlungen und zahlreiche abgehörte Gespräche von Angela T .belegen, dass es sich beim oben geschilderten Vorgang um keinen Einzelfall handelt. Außerdem wurde klar, dass das von ihr genutzte Netzwerk sich nicht auf die Welt der Gefängnisse beschränkt, sondern auch Vertreter von verschiedenen Polizei-Einheiten und Mitarbeiter von Gefängnis-Krankenhäusern einschließt: So habe sie sich in großem Umfang alle für ihre Klienten wichtigen Informationen beschaffen können.

Man kann sich nur wundern, wie ungeniert sich die Kriminologin an eine ihr unbekannte Person wendet, ihr eine kriminelle Handlung vorschlägt, ihr Namen von (korrupten) Medizinern und Gutachtern nennt, bei denen sie sich über die Bezahlung erkundigen könne. Aber möglicherweise ist dieses Vorgehen auch in anderen Bereichen der Gesellschaft so gang und gäbe.
Ilfattoquotidiano
Repubblica.it

Die Grauzone – unsichtbare Macht der Korruption

Dad, ich möchte eine Karriere in der organisierten Kriminalität machen. Regierung oder privaten Sektor?

 

Das italienische Gesetz zum „Whistleblowing“ zeigt Wirkung

Raffaele Cantone, Präsident der Anac (Autorità nazionale Anticorruzione: etwa: Amt für die Bekämpfung der Korruption), stellt den aktuellen Bericht seiner Behörde vor:

In den ersten fünf Monaten des Jahres 2018 haben sich die Anzeigen wegen Regelverstößen im öffentlichen und privaten Bereich im Vergleich zu 2017 mehr als verdoppelt. Im Schnitt gehen täglich mehr als zwei Anzeigen ein. 90 Prozent der Anzeigen betreffen die Behörden. Über die Hälfte der Anzeigen sind von Beschäftigten in den verschiedensten Behörden eingereicht worden. Etwa ein Viertel der Anzeigen vermelden Repressalien aller Art, auf dem zweiten Platz landen Fälle von Korruption und Missständen in der Verwaltung, 17 % der Anzeigen betreffen illegale Vorgänge bei öffentlichen Ausschreibungen.

Der Präsident ist über die Entwicklung seit dem Erlass des Gesetzes zum Whistleblowing (2017) sehr erfreut, betont aber: „Der Bericht besteht aus Licht und Schatten, es bleiben einige kritische Punkte. Die Zunahme der Anzeigen bedeutet nicht, dass die Fälle von Korruption zugenommen hätten, sondern es bedeutet im Gegenteil, dass die Leute allmählich damit aufhören, einfach wegzusehen.“ Die Zahl der Personen, die illegale Vorgänge anzeigen, könnte, so Cantone weiter, beträchtlich steigen, wenn es mehr Sicherheit für Whistleblower gäbe. Dies ist ein Punkt, der ihm Sorgen macht. „Mich beruhigt es ein wenig, was der römische Staatsanwalt Dr. Giuseppe Pignatone vorgeschlagen hat, dass man nämlich, wenn auch nur in speziellen Fällen, das Gesetz zum Schutz der Zeugen der Justiz anwenden könnte.“ Den Regierungsvorschlag, im Kampf gegen die Korruption verdeckte Ermittler einzusetzen. hält der Präsident der ANAC für sinnvoll, doch seiner Meinung nach gibt es noch viel Diskussionsbedarf, was die Risiken einer solchen Maßnahme betrifft.

nichts hören nichts sehen nichts sagen

Corruzione, whistleblowing: segnalazioni raddoppiate, il 90% nella Pa

Warum spricht die Politik nicht von der Mafia?

Mailand 21.Juni 2018: Die Antimafia-Staatsanwälte Di Matteo und Del Bene (1) diskutieren mit dem Soziologie-Professor Nando Dalla Chiesa unter dem Motto: „Man kann die Mafia besiegen – aber das hängt von uns ab!“ Organisiert wurde die Runde von Wiki-Mafia, einer Antimafia-Enzyklopädie im Internet, gegründet vom dalla-Chiesa-Schüler Pierpaolo Farina.

Einige Ausschnitte finden sich auf youtube, auf Italienisch:

Hier ein Ausschnitt (leicht gekürzt) :

Frage: Dr. Di Matteo, stellen wir uns vor, ein Kind fragt Sie, was ist Mafia? Sie erklären es ihm, und dann fragt das Kind weiter: Aber weshalb sprechen die Politiker nie von der Mafia?

Nino Di Matteo: Weil ein Teil der Politiker – ich weiß nicht wie groß der Anteil ist – es immer noch vorteilhaft findet, sich mit diesem Phänomen nicht ernsthaft auseinanderzusetzen, es wirklich besiegen zu wollen. Und das, weil sie in diesem System von Mafia und Korruption weiterhin für sich die Möglichkeit sehen, neue Geschäfte zu machen, bei weiteren Personen Zustimmung zu finden, kurz gesagt, das System der Macht am Leben zu halten. Es gibt einen anderen Teil der Politiker – der mir übrigens nicht weniger Sorgen macht – der die Existenz der Mafia ignoriert, der sich der Gefährlichkeit des Phänomens nicht bewusst ist, der von der Bedeutung des Urteils gegen Giulio Andreotti nichts wissen will, der ebenfalls nichts wissen will von der Bedeutung des Urteils gegen Marcello Dell’Utri und nicht einmal darüber nachdenkt, was die Verurteilungen im Prozess zur Trattativa (2) für Italien bedeuten.

Deshalb würde ich zu diesem Kind sagen: Kämpfe gegen die Mafia, in erster Linie für dich selber und für deine Zukunft, damit die Politiker, die mit der Mafia zusammenleben und zusammenleben wollen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werden. Und kämpfe dafür, dass die, die die Mafia ignorieren – und das ist ein genauso schlimmes Verhalten – , sich ändern. Es wäre dumm, verallgemeinern zu wollen. Aber es gibt immer noch viele, die, ohne es auszusprechen, genauso denken wie der ehemalige Minister Lunardi, der den Mut hatte, offen zu sagen, man müsse eben mit der Mafia zusammenleben. Und es gibt diejenigen, die offensichtlich nicht denken können, die Ahnungslosen, die über die Mafia nichts wissen, nicht darüber nachdenken. Die es bequemer finden zu denken, dass Mafia das Problem einer Schießerei in Neapel oder in Kalabrien sei, oder das Problem wie man einen Mafia-Killer dingfest machen kann…

Die Frage, warum die Politik nicht über Mafia spricht, ist mir bisher so nie gestellt worden. Aber wenn ich mich mit Schülern und Studenten treffe, kommt häufig die Frage: „Wann wird die Mafia endlich besiegt werden?“ Dann antworte ich: Wenn zwei Bedingungen erfüllt sind.

Die erste Bedingung entspricht dem Titel dieser Veranstaltung: „Es hängt von uns ab.“ Es ist eine kulturelle Revolution nötig, die von den jungen Leuten ausgehen muss. Die zweite Bedingung betrifft die Politik. Wir brauchen eine Änderung der Politik, die mit der genauen Kenntnis des Problems und dem Bewusstsein beginnt, wie gefährlich es ist.

Wir leben in einer Republik, wo ein Politiker, der sieben Mal Ministerpräsident und 21 Mal Minister war (Giulio Andreotti), sich in Sizilien in aller Ruhe mit den Mafia-Bossen aus Palermo traf, um mit ihnen darüber zu diskutieren, welche Schäden der Regionspräsident Piersanti Mattarella (3) bei den Geschäften der Cosa Nostra anrichtete. Wir leben in einer Republik, in der ein beträchtlicher Teil der Politik heute noch die Interessen einer Person vertritt, die mit Bossen der Cosa Nostra 1974 in Mailand einen Pakt geschlossen und ihn bis mindestens 1992 respektiert hat, also 18 Jahre lang. Ich spreche hier von dem damaligen Unternehmer Silvio Berlusconi. Also, die Politik muss eine andere Richtung nehmen, sie muss die Mafia ernsthaft bekämpfen und darf diesen Kampf nicht an die Justiz und die Polizei delegieren, sie darf nicht weiterhin sagen „Warten wir das Urteil der 3. Instanz ab“, denn auch wenn die endgültigen Urteile gesprochen sind, dann interessieren sie sich nicht einmal dafür. Die Politik muss wieder Ernst machen, und sie hat ja in der Vergangenheit schon bewiesen, dass sie dazu in der Lage ist. Die Politik muss im Kampf gegen die Mafia die Führung übernehmen! Sie darf sich nicht mehr hinter der billigen Ausrede verstecken, man achte nur die Gewaltenteilung und warte deshalb auf die endgültigen Urteile der Justiz. Ragazzi, hier werden zwei Ebenen bewusst vertauscht. Die Justiz untersucht die strafrechtliche Verantwortung einzelner Personen, einzelner Vorgänge, einzelner Verhaltensweisen. Aber es gibt bestimmte Phänomene von Mittäterschaft, die unabhängig vom Ausgang des Strafprozesses geahndet werden müssten, wo eine politische Verantwortung übernommen werden müsste, und dafür muss die Politik sorgen. Die italienische Politik drückt sich heute total vor ihrer Aufgabe als vorderste Front des Kampfes gegen die Mafia.

Wenn wir auf die deutsche Politik schauen, die ebenfalls das Wort Mafia nie in den Mund nimmt, welche Schlüsse können wir aus dem Beispiel Italien ziehen?

(1) Die beiden Antimafia-Staatsanwälte Di Matteo und Del Bene haben im Prozess zur „trattativa“ die Anklage vertreten

(2) Giulio Andreotti war seit Kriegsende Politiker der Democrazia Cristiana, das definitive Urteil (2004) bestätigt ihm dauerhafte Verbindungen mit Vertretern der Cosa Nostra bis zum Jahre 1980, die aber zum Zeitpunkt des Urteils verjährt waren. In weiten Teilen der Öffentlichkeit wird behauptet, er sei freigesprochen worden. Marcello Dell’Utri, Freund und rechte Hand von Silvio Berlusconi, wurde zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt, weil er als Mittelsmann zwischen Cosa Nostra und Berlusconi fungiert hat. Die erste Instanz des Prozesses zur Trattativa (zu den Verhandlungen zwischen Mafia und Staat) endete im April 2018 mit der Verurteilung von Mafia-Bossen, von hohen Rängen der Polizei, von ehemaligen Politikern, darunter erneut Dell’Utri.

(3) Der Ministerpräsident von Sizilien Piersanti Mattarella verfolgte eine bewusste Antimafia-Politik, er wurde 1980 von der Mafia ermordet. Sein Bruder Sergio ist heute Staatspräsident.Der Staat und die Mafia sind zwei Mächte, die dasselbe Gebiet besetzen. Entweder bekriegen sie sich, oder sie verständigen sich! – Paolo Borsellino

Palermo: Die Schutzgelderpressung anzeigen – und dann?

Geschlossen wegen Schutzgelderpressung

„Da die Schutzgelderpressung eine große Bedeutung für die Mafia hat, ist es umso wichtiger, dass die Opfer die Erpressung anzeigen! Nur so ist es möglich, das Erpresser-Netz allmählich auseinander zu dividieren. Ohne das Geld aus der Schutzgelderpressung funktioniert das System nicht, mit dem die Mafia die Familien der Bosse im Gefängnis unterstützt, und so bricht dann das ganze System zusammen!“ (Francesco Messineo, Staatsanwalt Palermo, anlässlich der Operation „Hybris“ 2011)

Die Geschichte von Daniele Ventura, 27 Jahre
Daniele wächst in Brancaccio auf, einem Viertel von Palermo, das sich durch eine besonders hohe Kriminalitätsrate auszeichnet. (1) Danieles Familie lehrt ihn aber, die Gesetze zu achten, und die Ermordung der beiden Antimafia-Richter Falcone und Borsellino 1992 – da ist Daniele 8 Jahre alt – hinterlässt in ihm und in seiner Familie einen unauslöschlichen Eindruck.

2010 setzt Daniele seinen Lebenstraum um und eröffnet voller Optimismus im Zentrum von Palermo eine Bar. Anfangs geht alles gut, bis eines Tages drei Männer erscheinen, die von ihm Schutzgeld verlangen. Völlig überrascht gibt er der ersten Erpressung nach und zahlt. Dann aber fallen ihm die beiden Antimafiarichter ein, seine großen Vorbilder, und unterstützt von einem Cousin, zeigt er die Erpressung bei der DDA von Palermo an. (2) Aus den Fotos, die man ihm vorlegt, kann er die drei Erpresser identifizieren.

Leider ist der Albtraum, in dem die Opfer von Schutzgelderpressung leben müssen, hier nicht zu Ende, wie man glauben könnte: Auch wenn Daniele die Unterstützung von Addiopizzo hatte, die Leute im Viertel mieden ihn nun wie die Pest, die Aufträge für ein Catering gingen rapide zurück, immer weniger Leute wollten ihren Kaffee in seiner Bar trinken. Auch von den anderen Geschäftsleuten, die weiter an die Mafia zahlten, bekam er massiven Druck: man zerstörte ihm die Eingangstür und man stahl ihm die wertvollsten Einrichtungsgegenstände. Und so konnte er schließlich Strom und Miete nicht mehr bezahlen und musste die Bar schließen.

Das Verhalten der Leute ist für Daniele ein einziges Rätsel, „nach allem, was in den letzten Jahren hier passiert ist“. Eine andere Ursache aber vermutet er darin, dass der Staat keine starken Signale gibt und sich aus der Verantwortung stiehlt: Die Consap (3) verweigerte ihm die finanzielle Unterstützung mit dem Argument, man könne nicht erkennen, dass die beantragten Gelder für den Unterhalt der Bar bestimmt seien, obwohl Daniele alles mit Rechnungen dokumentieren konnte. Erst als eine Online-Zeitung und eine bekannte Fernsehsendung sich seines Falles annahmen, wurde die Entscheidung der Behörde geändert.

Siziliens Ministerpräsident Musumeci forderte ihn auf, ihm in einem Brief seinen Fall zu schildern. Der Brief blieb jedoch bis heute ohne Antwort. Als sich Daniele an den Staatspräsidenten Mattarella wandte, beschied ihm das Sekretariat, der Staatspräsident habe keine Zeit für ihn. Dies sind, so Daniele, Verhaltensweisen, die nicht gerade dazu beitragen, das Vertrauen ehrlicher Bürger in den Staat zu fördern.

Doch trotz dieser Erfahrungen bereut Daniele seine Entscheidung nicht. „Ich würde es jederzeit wieder so machen!“ Trotzdem findet er seine Erfahrungen wichtig, da sie typisch sind für alle, die die Schutzgelderpressung anzeigen. Deshalb hat er darüber ein Buch geschrieben. Außerdem hat ihm der Vizepräsident des Regionalparlaments vorgeschlagen, einen Gesetzesvorschlag zu formulieren, in den alle spezifischen Probleme einfließen sollen. Der Text solle dann der Nationalen Antimafia-Kommission in Rom vorgelegt werden.

Nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit hat Daniele nun auch die Unterstützung durch ein anderes Mafia-Opfer gefunden, durch den Unternehmer Calì: Der musste seinen Laden, eine Art Tauschbörse, ebenfalls schließen, nachdem er die Schutzgelderpressung angezeigt hatte. Seine Entscheidung, nicht zu zahlen, hatte Calì dann noch mit einer Anzeige in einer örtlichen Zeitung untermauert: „Ich zahle kein Schutzgeld!“. Jetzt haben beide diesen Laden neu eröffnet und arbeiten zusammen.

Allerdings verhalten sich die Leute noch genau wie vorher: Sie meiden das Geschäft, zeigen den beiden mutigen Männern den Mittelfinger, beschimpfen sie, aber, so Daniele, „wir beugen uns nicht und gehen gemeinsam voran!“  Antimafiaduemila.com

 (1) In Brancaccio wurde 1993 der Priester Pino Puglisi im Auftrag der beiden Mafiabosse Graviano umgebracht.

(2) Direzione distrettuale Antimafia: Örtliche Antimafia-Einheit

(3) Consap: ein Amt, das die der Mafia konfiszierten Gelder verwaltet und für die Unterstützung der Opfer von Schutzgelderpressung zuständig ist.

Daniele Ventura: Cosa nostra non è cosa mia, La Zisa 2018

 

Italien: Der Prozess zur trattativa – Ein Staat prozessiert sich selbst


Geschichte des Prozesses: Ilfattoquotidiano

In Palermo hat sich am 16.4. das Gericht zur Beratung der Urteile im Prozess zur trattativa zurückgezogen.

Schon vor zehn Jahren nahmen die Ermittlungen zur Beziehung des italienischen Staates zur Mafia ihren Anfang, der Prozess selber läuft seit 4 Jahren und 11 Monaten und hat viele Einzelheiten und Zusammenhänge ans Licht befördert, dadurch dass einige Politiker urplötzlich sich an Dinge erinnerten, von denen sie zuvor behauptet hatten, sie hätten sie komplett vergessen. Der Prozess hat historische Bedeutung allein durch die Tatsache, dass neben Mafiabossen drei hochrangige Vertreter der Carabinieri und ehemalige Minister auf der Anklagebank sitzen. Ihnen wird vorgeworfen, ein staatliches Gremium bedroht oder erpresst zu haben. Staatsvertreter sollen die Verhandlungen mit Cosa Nostra aufgenommen haben, um die Phase der blutigen Mafia-Attentate zu stoppen. Die Mafia wollte eine Revision der Urteile des Maxiprozesses erreichen, die im Januar 1992 definitiv bestätigt worden waren. Außerdem verlangte sie Reformen bei den Haftbedingungen, vor allem natürlich die Abschaffung des Artikels 41 bis, der Isolationshaft für gefährliche Mafiabosse vorsieht.

Das Gericht sollte jetzt beurteilen, ob diese Verhandlungen von Vertretern der Institutionen mit Cosa Nostra ein Straftatbestand sind.

Der Prozess ist verschiedenen Funktionsträgern der italienischen Politik ein dauernder Stachel im Fleische gewesen, darunter auch dem ehemaligen Staatspräsidenten Giorgio Napolitano, der 1992 Parlamentspräsident gewesen war. Der damalige Innenminister Nicola Mancino, angeklagt wegen Falschaussage, beklagte sich zunächst in den Medien über die Unverschämtheit, dass er in gleicher Weise wie „das Gesocks“ (er meinte die Mafiabosse) behandelt werde, und wandte sich dann um Hilfe an den Hausjuristen des Staatspräsidenten Giorgio Napolitano Ambrosio und an den Präsidenten selbst. Die Staatsanwaltschaft hatte die Telefonate des Angeklagten Mancino abgehört und dann festgestellt, dass am anderen Ende der Leitung der Hausjurist bzw. der Staatspräsident selber zu hören war. Es folgte eine Phase, in der Napolitano alle Hebel in Bewegung setzte, um die Vernichtung dieser Abhörprotokolle durchzusetzen. Und es ist ihm auch gelungen. Der ehemalige Minister Mancino hat jetzt das Schlusswort im Prozess gesprochen. Er gab zu, dass die bisher von ihm stets geleugnete Begegnung mit Paolo Borsellino am 1. Juli 1992 stattgefunden hat und fügte noch hinzu, es wäre wohl besser gewesen, wenn er nicht mit Ambrosio und Napolitano telefoniert hätte.

Lange wurde erbittert gestritten, ob es diese Verhandlungen überhaupt gegeben hat. Und obwohl ein Gericht in Florenz (2011) im Prozess zum Bomben-Attentat bei den Uffizien bestätigt hat, dass die Ermittlungen genau dies ergeben hätten: Es hat die Verhandlungen gegeben, sprachen Nachrichtensprecher und Leitartikler stets von den „angeblichen“ Verhandlungen.

Zwei bekannte Mafia-Experten der Universität Palermo, der Historiker Salvatore Lupo und der Jurist Giovanni Fiandaca, veröffentlichten sogar gemeinsam ein Buch, indem sie den Staatsanwälten des Prozesses eine unsaubere und unwissenschaftliche Rekonstruktion der Ereignisse vorwarfen und behaupteten, es gebe keine Beweise, die trattativa habe es nicht gegeben.

Insgesamt muss man feststellen, dass die überwiegende Mehrheit der italienischen Medien zwei Strategien im Umgang mit dem Prozess verfolgt hat: Entweder das totale Schweigen oder der Versuch, Anklage und Staatsanwälte lächerlich zu machen mit Bezeichnungen wie z.B. „Die trattativa? Ein Schwachsinn von Verrückten“ (una boiata pazzesca).

Ein Porträt des leitenden Staatsanwaltes Di Matteo und seiner schwierigen Situation wurde von einem ausländischern Sender (Aljazeera) gedreht, Vergleichbares in der italienischen Medienlandschaft? Fehlanzeige!

Auch jetzt äußern sich verschiedene Medien äußerst kritisch. Hier zwei Beispiele: Die Zeitung il foglio meint, die Rekonstruktion der Anklage zeichne nur das Bild, das die Öffentlichkeit sowieso glauben wolle.

Und in Panorama liest man, dass das Gericht schwerlich die Arbeit der Ankläger in Frage stellen werde, da sie mit den Namen von Roberto Scarpinato, Antonio Ingroia und Nino Di Matteo verbunden sei – drei Staatsanwälte, die für ihre Antimafia-Ermittlungen und –Prozesse über die Grenzen Italiens hinaus bekannt sind. Der Autor des Artikels wettet abschließend, dass es deshalb eine Verurteilung geben werde. Der zu erwartende Freispruch werde damit an die Richter der zweiten Instanz delegiert.

Übrigens: Die Aufregung um die offenen Fragen, die mit den Attentaten von 92-93 trotz aller Ermittlungen noch verbunden sind, wird sich auch weiter nicht legen. Die Staatsanwaltschaft Florenz hat Ermittlungen gegen Silvio Berlusconi und Marcello Dell’Utri, Mitbegründer der Berlusconi-Partei und seine rechte Hand, wegen der Attentate von 93 wieder aufgenommen: Anlass sind Aussagen des Kronzeugen Spatuzza, der von einem Treffen mit seinem Boss Giuseppe Graviano in Rom berichtet. Graviano sei überglücklich gewesen und habe unter anderem gesagt, dank Dell’Utri habe man ganz Italien in der Hand, und es sei Berlusconi – „der von Canale 5“ (Name eines Fernsehsenders von Berlusconi) gewesen, der ihn um „diesen“ Gefallen gebeten habe. Nun wird untersucht, ob mit „diesem“ Gefallen die Attentate in Mailand, Florenz und Rom von 1993 gemeint waren.

Die Urteile in erster Instanz vom 20.4.2018

In sieben Minuten und 50 Sekunden wurde das Urteil durch den Richter Alfredo Montalto verlesen:

  • Die Verhandlungen (ab dem Jahr 1992) zwischen Cosa Nostra und italienischen Staatsvertretern hat es gegeben
  • Die Verhandlungen wurden von Mafiabossen (Totò Riina, inzwischen verstorben, Bernardo Provenzano, inzwischen verstorben, Antonino Cinà und Leoluca Bagarella) drei hochrangigen Carabinieri (Mario Mori, Antonio Subranni, Giuseppe De Donno) und dem Gründer der (Berlusconi-)Partei Forza Italia (Marcello Dell’Utri) geführt.
  • Während Cosa Nostra Richter wie Giovanni Falcone und Paolo Borsellino und wehrlose Bürger in Florenz und Mailand ermordete, haben Vertreter der Institutionen den Kontakt zu Cosa Nostra gesucht. Dabei sei Marcello Dell’Utri der Verbindungsmann zwischen Mafia und dem Politiker Berlusconi gewesen.
  • Der Vorwurf, ein staatliches Gremium erpresst oder bedroht zu haben, bedeutet, dass Cosa Nostra die damalige Regierung mit der Ankündigung weiterer Bomben und Attentate unter Druck gesetzt und gefordert hat, den Kampf gegen die Mafia zurückzufahren. Diese Drohungen waren gerichtet an die Regierungen der Jahre 92 bis 94, d.h. die Regierungen Amato, Ciampi und Berlusconi.
  • Die Verurteilungen: Die Carabinieri Mori und Subranni bekommen 12 Jahre, das gleiche Strafmaß erhalten der ehemalige Senator Marcello Dell’Utri und der Mafiaboss Cinà; 8 Jahre für den ehemaligen Carabinieri-Kapitän De Donno, 28 Jahre für den Mafiaboss Bagarella.
  • Verjährung für den Mafia-Kronzeugen Giovanni Brusca; der Innenminister des Jahres 1992 Nicola Mancino, der wegen Falschaussage angeklagt war, wird freigesprochen.
  • Einer der Hauptzeugen des Prozesses, Massimo Ciancimino, Sohn und Sekretär seines wegen Mafia verurteilten Vaters Vito Ciancimino, ist wegen übler Nachrede zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt.
  • Bagarella, Cinà, Dell’Utri, Mori, Subranni und De Donno sind außerdem zur Zahlung von insgesamt 10 Millionen Euro an den italienischen Ministerrat verurteilt, der ebenfalls als Kläger im Prozess aufgetreten ist…Ilfattoquotidiano

Nach der Verkündigung der Urteile: Die Staatsanwälte widmen den Prozess Giovanni Falcone, Paolo Borsellino und allen unschuldigen Opfern der Mafien und nehmen den Applaus des Publikums entgegen