Dem Boss der Bosse „einen Tod in Würde gewähren“?

Der Anwalt von Salvatore Riina, Oberhaupt der Cosa Nostra, seit 1993 wegen ungezählter Morde, darunter die Attentate auf die Antimafia-Richter Falcone und Borsellino 1992 und die Anschläge auf dem Festland von 1993 (Florenz, Mailand, Rom), in Isolationshaft, hat beim Kassationsgericht den Antrag gestellt, die Freiheitsstrafe seines Mandanten auszusetzen oder in Hausarrest zu verwandeln. Begründung: Riina sei sehr alt (er ist 86), krank und liege im Sterben. Das Kassationsgericht hat dem Antrag stattgegeben und ihn an das zuständige Gericht in Bologna weitergeleitet, das bei seiner Ablehnung aus dem Jahre 2016 die besonders schweren Gesundheitsprobleme des Häftlings nicht in Betracht gezogen habe, so das Kassationsgericht.

Auch ein Häftling zu den Bedingungen des „41 bis“ (Isolationshaft) habe das Recht, in Würde zu sterben.

Keine drei Wochen sind vergangen, seitdem italienische Staatsvertreter und Medien tagelang den 25. Jahrestag des Attentats auf den Antimafia-Richter Giovanni Falcone mit Reden und viel Pomp begangen haben.

Umso mehr fällt auf, dass jetzt, nachdem das oberste Gericht dem Boss der Bosse einen „Tod in Würde“ ermöglichen will, sich kaum ein Staatsvertreter zu Wort meldet. Dabei hatte Riina nicht einmal Bedenken, anzuordnen, den kleinen Sohn eines Kronzeugen in Salzsäure aufzulösen (1). Im Raum stehen auch immer noch die Morddrohungen Riinas aus dem Gefängnis, die dem Antimafia-Richter Di Matteo aus Palermo und Don Ciotti, dem Leiter der größten Antimafia-Organisation in Italien, gelten. (2)

Rühmliche Ausnahme ist Franco Roberti, Nationaler Antimafia-Staatsanwalt, der betont, dass Riina noch immer der oberste Boss der Cosa Nostra sei, wofür er Beweise habe. Dass Riina nach wie vor höchst gefährlich sei, das bestätige der Staat dadurch, dass man für den Staatsanwalt Di Matteo die höchste Sicherheitsstufe angeordnet habe. Keine Frage: Salvatore Riina muss in Haft bleiben.

Der Staatsanwalt aus Catanzaro, Nicola Gratteri, unterstützt die harte Linie: Riina sei ein Boss, der auch mit den Augen Befehle gebe; zu behaupten, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgehe, sei völlig verfehlt. Antimafiaduemila.com

Mehrere Mafia-Experten heben einen weiteren Gesichtspunkt hervor: Im Januar 2017 hatte Riina erklärt, sich im Prozess über die „trattativa“ (3) den Fragen des Gerichts zu stellen. Eine Ankündigung, die die italienische Öffentlichkeit in helle Aufregung versetzte. Eine Woche später zog der Angeklagte seine Zustimmung zurück, weil er Fieber habe.

Hier ist auch an das Schicksal des anderen Bosses der Bosse, Bernardo Provenzano, (4) zu erinnern: Als erkennbar war, dass er aussagen wollte, hatte er plötzlich und auf bis heute ungeklärte Weise eine schwere Kopfverletzung, die seinen mentalen Zustand so verschlimmerte, dass eine Aussage nicht mehr möglich war. Antimafiaduemila.com

Heißt das, dass die Bereitschaft eines hochrangigen Bosses auszusagen dazu führt, dass „irgendjemand“ tätig wird, um zu garantieren, dass der Boss den Mund hält? Dann müsste man die Hoffnung aufgeben, andere Hüter der Geheimnisse des italienischen Staates und der Mafia könnten doch noch irgendwann aussagen.

Was Riinas Gesundheitszustand angeht: Er ist tatsächlich schwer krank und kann seit einiger Zeit nicht mehr sitzen. Aber er hat bis heute – mit einer Ausnahme – an den über 150 Prozessverhandlungen – im Liegen und per Videokonferenz – teilgenommen und scheint nicht im Mindesten „im Sterben“ zu liegen. Er ist unter ständiger ärztlicher Aufsicht und hat ganz regulär am letzten Verhandlungstag (8. Juni 2017) teilgenommen. Antimafiaduemila.com

Das Verhalten der italienischen Staatsvertreter ist mir persönlich ein Rätsel. Dass weder der Regierungschef noch der Ex-Regierungschef Matteo Renzi sich öffentlich äußern, das kennt man ja. Aber wenigstens der Staatspräsident Sergio Mattarella, dessen Bruder von der Mafia 1980 ermordet wurde – auch dafür hat Riina ein „Lebenslänglich“ erhalten –  hätte doch zu diesem unerhörten Vorgang Stellung nehmen müssen. Die einzige plausible Erklärung scheint mir, dass offensichtlich die Geheimnisse zwischen italienischen Staatsvertretern und Mafia Geheimnisse bleiben sollen.

Anmerkungen:

(1) Giuseppe Di Matteo, 13 Jahre alt, Sohn eines Kronzeugen, wurde von der sizilianischen Mafia 1993 entführt, um seinen Vater zu zwingen, seine Aussagen über das Attentat von Capaci zurückzuziehen. Nach langer Gefangenschaft wurde Giuseppe im Januar 1996 in Salzsäure aufgelöst.

(2) Dass das Vorhaben eines Attentats auf den Staatsanwalt Di Matteo nicht aufgegeben ist, hat ein abgehörtes Gespräch unter Mafiosi Anfang 2017 ergeben: Daraufhin hat man Di Matteo „aus Sicherheitsgründen“ eine außerordentliche Stelle in der DNA (Direzione Nationale Antimafia) in Rom angeboten, weil er in Palermo nicht mehr sicher sei.

(3) Im Prozess zur „trattativa“ (Verhandlungen zwischen Staat und Mafia) ist Totò Riina einer der angeklagten Mafia-Bosse. Wie die anderen angeklagten Bosse hat er bisher zu den entscheidenden Fragen des Gerichts geschwiegen.

(4) Nachdem 1993 Riina festgenommen worden war, hieß der Boss der Bosse Bernardo Provenzano. Unerklärlich, wie ihm, untergebracht in einer Einzelzelle, unter ständiger Video-Überwachung, eine so schwere Kopfverletzung beigebracht werden konnte. Ihm hat man keinen Tod in Würde ermöglicht, er starb im Gefängnis.

„Ein Tod in Würde für Riina“ – „Tut mir leid, die würdevollen Tode sind aus“

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