Der leitende Oberstaatsanwalt aus Palermo schlägt Alarm

Oberstaatsanwalt Roberto Scarpinato analysiert die Verflechtungen von Wirtschaft und Mafien, wie sie sich aus den Ermittlungen zu aktuellen Mafia-Prozessen ergeben, und beschreibt, wie sich die Mafien bei ihren Geschäften die „Gesetze des freien Marktes“ zunutze machen.

Vorbemerkung: Der Begriff Legalität ist definiert als „Beachtung der Gesetze“ und „Handeln im Rahmen der Gesetze“. Der Begriff wird in Italien häufiger verwendet als z.B. in Deutschland.

Aus Anlass der Gedenkfeierlichkeiten zum 24. Jahrestag des Bombenattentats auf den Antimafia-Richter Paolo Borsellino am 19. Juli 1992 trafen sich Vertreter des ANM (nationale italienische Richter-Vereinigung) in Palermo, um die aktuelle Situation im Kampf gegen die Mafia zu reflektieren.

Ich zitiere hier aus einem Artikel (von Francesca Mondin und Miriam Cuccu) der Online-Zeitung Antimafiaduemila, der wesentliche Äußerungen des leitenden Oberstaatsanwalts von Palermo Roberto Scarpinato und des nationalen Antimafia-Staatsanwalts Franco Roberti wiedergibt.

Roberto Scarpinato: Das große Versprechen, dessen Erfüllung nach den Attentaten von 1992 möglich erschien, dass man Legalität und wirtschaftliche Entwicklung vereinen könnte, ist bis heute nicht wahr geworden und ist eine verpasste Gelegenheit: Sizilien ist die ärmste Region Italiens mit der stärksten wirtschaftlichen Ungleichheit. Aber das größte Problem ist ein Phänomen, das ganz versteckt abläuft: Die Legalität ändert gerade ihre DNA: Wenn die Legalität früher, zu Borsellinos Zeiten, Rechte garantierte, so entwickelt sich heute in Riesenschritten eine „verträgliche“ Legalität, die den Rechten ihre Macht entzieht und sie den Erfordernissen des Marktes unterordnet. Ein Phänomen, das eine Politik verantwortlich macht, (…), die nicht bemerkt, dass sie an Glaubwürdigkeit verliert, wenn sie keine soziale Gerechtigkeit und Gleichheit herstellt.“

Ein anderes Problem, so betont Franco Roberti, sei die „Verbreitung und die Verwurzelung der Mafia auch im Ausland, während die internationale Zusammenarbeit erst noch in Gang gesetzt werden muss. Es besteht in den verschiedenen Ländern eine große Ungleichheit bei den zur Verfügung stehenden Handhaben, die uns nicht erlauben, an die Vermögen der Mafiosi heranzukommen, wenn sie sich im Ausland aufhalten. Die Korruption ist jetzt das bevorzugte Mittel, das die Mafia einsetzt, so wie sie früher das Mittel der Einschüchterung benützte.

Deshalb haben wir für den Artikel 416 des Strafgesetzbuches, der die Zugehörigkeit zur Mafia bestraft, vorgeschlagen, Korruption als „erschwerenden Umstand“ hinzuzunehmen.“ Am Ende seiner Rede fordert Roberti die italienische Regierung auf, die Bekämpfung der Mafia als Priorität in ihr Programm aufzunehmen.

Roberto Scarpinato: Ein (weiteres) Problem ist, dass man sich heute an die Behauptung gewöhnt hat, dass die Mafien eben Teil der Politik und der Wirtschaft Italiens seien. In Wirklichkeit aber muss man drei Gesichter der Mafia auseinanderhalten: die traditionelle Mafia, die Freimaurer-Mafia, und die Mafia, die sich an den Regeln des Marktes orientiert. Die traditionelle Mafia befand sich schon ab 1992 in großen Schwierigkeiten wegen der Einschnitte bei den öffentlichen Ausschreibungen, bei der Verwendung von Steuergeldern und bei der Vergabe von Bauaufträgen. Damals hatte man sich die Privilegien mit Politikern geteilt, (…) heute aber (…) ist der Zugang zu den öffentlichen Geldern und zu den wirklich großen Geschäften einer Elite vorbehalten, und so haben wir jetzt das gemeine Volk der Mafiosi, das eine Verarmung hinnehmen muss so wie das auch in der Bürgerschaft geschieht, während die Mafia-Eliten bzw. die Freimaurer-Mafia die großen Geschäfte macht und dabei die Organisation der Mafien weiter entwickelt. Z.B. hat die ‚Ndrangheta ein neues Organ geschaffen, das kollegial vorgeht, sozusagen eine „Super-Cupola“, die aus einer kleinen Elite besteht – bevorzugt aus Freimaurer-Kreisen – und die für sich eigene Regeln aufgestellt hat.

Und dann gibt es die Mafia, die sich auf einem Markt bewegt, der nicht mehr so aggressiv ist wie der bisherige, bei dem man Geschäfte mit dem Mittel der Erpressung macht, weil man jetzt eine Service-Leistung anbietet, die der andere akzeptieren kann oder nicht. Dies ist ein Ergebnis der Ermittlungen zum Prozess „Aemilia“(Prozess gegen die ‚ndrangheta in der Emilia-Romagna) , wo es im betroffenen Gebiet keinen Widerstand gibt, weil alles unter dem Blickwinkel „Nachfrage und Angebot“ gesehen wird. Ein Problem ist, dass diese Vorgehensweise von der EU legitimiert wurde, die seit 2014 erlaubt, Erträge aus Prostitution und Drogengeschäften zum Bruttoinlandsprodukt dazuzuzählen, weil es sich dabei um Service-Leistungen handele.

Das ist eine schizophrene Situation, auf der einen Seite arbeiten wir für die Seite der Legalität, auf der anderen legitimieren wir die Mafia-Wirtschaft.“

„Mit dieser völlig veränderten Situation“, so Scarpinato, „kommen wir wahrscheinlich eines Tages plötzlich zur Einsicht, dass es die Mafia nicht mehr gibt: Weil wir als Mafia nur die bezeichnen, die mit Erpressung arbeiten, während wir nicht mehr in der Lage sein werden, die Freimaurer-Mafia zu erkennen. Oder wir werden sagen müssen, dass die Mafia eben Teil des freien Marktes ist, weil sie fester Bestandteil des Finanzkapitalismus geworden ist, der auf diese Weise zu einer der realen Mächte geworden ist.“

„Das Gesetz ist für alle gleich“
Antimafiaduemila.com

A judge's robe lies in Milan's High Court in this undated file photo. A national magistrates' strike is taking place Tuesday, May 25, 2004, to protest against the governments' reforms of the judicial order. (AP Photo/Giuseppe Aresu)

A judge’s robe lies in Milan’s High Court in this undated file photo. A national magistrates‘ strike is taking place Tuesday, May 25, 2004, to protest against the governments‘ reforms of the judicial order. (AP Photo/Giuseppe Aresu)

 Das Erfolgrezept der Mafia – Unsichtbarkeit

Ein Gedanke zu „Der leitende Oberstaatsanwalt aus Palermo schlägt Alarm

  1. Pingback: Eva Klose Antimafia Engagement | W-T-W

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.